Ganz oder Kowalski
zurückzukehren. Dort erwartete sie nichts außer Papierkram und dem Widerhall ihrer eigenen Stimme.
Als sie einige Zeit später die Eingangstür aufschloss, hörte sie das Telefon klingeln und lief hin. Ihre Finger schwebten über den Tasten, als sie darüber nachdachte, ob sie in der Stimmung war, mit Lisa zu sprechen. Eigentlich war sie es nicht, aber sie nahm das Gespräch trotzdem an, weil die Anruferin ihre beste Freundin war.
„Hast du Cat auf den Weg nach Florida gebracht?“, erkundigte Lisa sich.
„Sie dürfte schon in der Luft sein.“
„Dann solltest du heute Abend zum Essen kommen. Wenn die Kleinen im Bett sind, könnten wir eine Flasche Wein aufmachen. Oder zwei.“
Es war ein reizvoller Gedanke – und das nicht nur wegen der netten Gesellschaft. Aber Mike und Sean waren sich nicht nur äußerlich, sondern auch charakterlich so ähnlich, dass Emma fürchtete, den Abend nicht zu überstehen. „Ich glaube, ich schlüpfe heute Abend in meinen alten Jogginganzug und hau mich vor den Fernseher.“
„Oh, oh. Ein Anfall von Selbstmitleid. Möchtest du, dass ich zu dir komme?“
„Es ist kein Anfall von Selbstmitleid. Mir geht es gut. Ich schwör’s.“ Das entsprach zwar nicht der Wahrheit, aber sie fürchtete, dass Lisa es Mike erzählen könnte, wenn sie wegen Sean in Tränen ausbrach. Und dann könnte es die Runde machen und am Ende bei Sean landen.
Ein Anfall von Selbstmitleid war eine Sache – Seans Mitleid dagegen wäre zu viel.
„Ruf mich an, falls du es dir noch anders überlegst“, sagte Lisa.
„Gut. Und schau mal, ob du was Leckeres aus Mrs K.s Keksdose stibitzen kannst.“
Lisa lachte. „Ich versuch‘s. Ruf mich morgen an.“
Nachdem das Telefonat beendet war, stand Emma im Flur und lauschte. Im Haus war es so still – und irgendwie verändert. In den zwei Jahren, bevor Gram und Sean über sie hereingebrochen waren, war es im Haus immer ruhig gewesen. Doch jetzt wirkte die Stille geradezu bedrückend – so, als wäre ein fröhliches Lied mittendrin unterbrochen worden.
Statt herumzustehen und ihren eigenen Gedanken zu lauschen, schnappte sie sich ihren iPod. Nachdem sie eine Playlist zusammengestellt hatte, in der kein einziger trauriger Song war, setzte sie sich die Kopfhörer auf und holte das Putzmittel unter der Spüle hervor. Wenn sie die Bäder putzte, war sie am Ende vielleicht erschöpft genug, um schlafen zu können.
Sean fuhr circa achtzig Kilometer durch die Stadt, während er darauf wartete, dass diverse Autos die Einfahrt seiner Tante und seines Onkels freimachten. Endlich konnte er vor ihrem Haus halten und den Motor abstellen.
Er hatte verschwommene Erinnerungen daran, wie er sich auf den Schoß seiner Mutter geflüchtet hatte, wenn er krank oder müde gewesen war oder Angst gehabt hatte. Sie hatte ihn festgehalten und ihm über den Rücken gestreichelt, bis in seiner Welt alles wieder in Ordnung gewesen war. Diesen Trost und Beistand brauchte er jetzt auch. Aber er war kein kleiner Junge mehr, und seine Mutter war schon lange tot. Er hatte allerdings seine Tante, und wenn er sie nur unglücklich genug anblickte, würde sie vielleicht die Arme um ihn legen und ihn an sich drücken.
Sein Onkel öffnete die Tür. „Du siehst ja grauenhaft aus, Junge.“
„Danke, Onkel Leo. Das freut mich.“
„Schätze, du möchtest ein bisschen Zeit mit dem Krümelmonster verbringen, stimmt‘s?“ Als Danny noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte er Lisa angebettelt, mit ihm zum Geburtstag seiner Grammy eine Keksdose zu kaufen, die aussah wie das Krümelmonster. Es gab keinen Tag, an dem das blaue Monster nicht voll von köstlichen, auf der Zunge zergehenden, selbst gebackenen Keksen war.
„Ist Tante Mary in der Küche?“
„Hast du schon mal erlebt, dass sie nicht dort gewesen wäre? Ich bin im Werkzeugschuppen, falls du danach noch reden möchtest.“
„Danke.“
Seine Tante stand an der Anrichte und putzte Erdbeeren, als er in die Küche kam. Sie musterte ihn von oben bis unten. „Helle Brownies.“
Seine Lieblingskekse. Er nahm sich zwei Brownies aus der Krümelmonsterdose und setzte sich an den Tisch. Tante Mary wusch sich die Hände und schenkte ihm zu den Keksen ein Glas Milch ein.
„Woran liegt es, dass du so aussiehst wie etwas, das der Hund im Hof ausgebuddelt hat?“
Da sie ihre Schürze umgebunden hatte, in deren Tasche griffbereit der gute alte Holzlöffel steckte, verkniff er sich die schnippische Bemerkung, die ihm spontan in den Sinn
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