Zeitlose Zeit
PHILIP K. DICK
ZEITLOSE ZEIT
TIME OUT OF JOINT
Wilhelm Goldmann Verlag
Aus dem Englischen übertragen von Tony Westermayr
Made in Germany • 11/85 • 3. Auflage
© der Originalausgabe 1959 by Philip K. Dick
© der deutschsprachigen Ausgabe 1978
by Wilhelm Goldmann Verlag, München
Umschlagentwurf: Design Team München
Umschlagillustration: Fred-Jürgen Rogner
Druck: Elsnerdruck, Berlin
Lektorat: Hans Ulrich Kulinke/Melanie Berens/PW
Herstellung: Peter Papenbrok
ISBN 3-442-23269-4
1
Victor Nielson schob aus dem Kühlraum hinter dem Laden einen Wagen voll Winterkartoffeln zur Gemüseabteilung. Er warf die neuen Kartoffeln in den fast leeren Kasten und untersuchte jede zehnte nach Beschädigungen und faulen Stellen. Eine große Knolle fiel auf den Boden, und er bückte sich, um sie aufzuheben; dabei blickte er an den Kassen mit den Gestellen voll Zigaretten und Schokolade vorbei hinaus durch die großen Glastüren auf die Straße. Ein paar Fußgänger kamen vorbei, und auf der Straße sah er die Sonne auf der Stoßstange eines Volkswagens aufblitzen, der den Kundenparkplatz verließ.
»War das meine Frau?« fragte er Liz, die kräftige Kassiererin aus Texas.
»Nicht, daß ich wüßte«, sagte Liz und tippte zwei Karton Milch und ein Pfund Rinderhack ein. Der ältere Kunde an der Kasse griff nach seiner Brieftasche.
»Sie wollte vorbeikommen«, sagte Vic. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn sie kommt.« Margo sollte Sammy, ihren Zehnjährigen, für eine Röntgenaufnahme zum Zahnarzt bringen. Da man April schrieb – Termin für die Einkommensteuer –, war der Stand des Sparkontos ungewöhnlich niedrig, und er fürchtete das Ergebnis der Röntgenaufnahme.
Er konnte das Warten nicht ertragen, ging zum Münzfernsprecher neben dem Regal mit den Dosensuppen, warf eine Münze hinein und wählte.
»Hallo«, meldete sich Margo.
»Hast du ihn hingebracht?«
Margo sagte nervös: »Ich mußte Doktor Miles anrufen und den Termin verschieben. Gegen Mittag fiel mir ein, daß heute der Tag ist, an dem Anne Rubenstein und ich die Eingabe zum Gesundheitsamt bringen müssen. Sie muß heute eingereicht werden, weil die Aufträge jetzt vergeben werden, nach allem, was wir hören.«
»Was für eine Eingabe?« sagte er.
»Wir wollen die Stadt zwingen, die Reste aus den drei Ruinengrundstücken wegzuräumen«, sagte Margo. »Wo die Kinder nach der Schule spielen. Das ist eine Gefährdung. Rostige Drähte, zerbrochene Betonklötze ...«
»Hättet ihr das nicht schriftlich machen können?« unterbrach er sie. Aber insgeheim war er erleichtert. Sammys Zähne würden vor dem nächsten Monat nicht ausfallen; es eilte nicht. »Wie lange wirst du dort sein? Heißt das, daß du mich nicht abholst?«
»Ich weiß es einfach nicht«, sagte Margo. »Paß auf, Liebes, im Wohnzimmer sitzt ein ganzer Schwarm Damen – wir überlegen uns alle Einwände, die wir vorbringen können. Wenn ich dich nicht heimfahren kann, rufe ich dich um fünf oder sechs an, okay?«
Als er eingehängt hatte, schlenderte er zur Kasse. Es mußte kein Kunde abgefertigt werden, und Liz hatte sich schnell eine Zigarette angezündet. Sie lächelte ihn mitfühlend an.
»Wie geht es Ihrem Kleinen?« fragte sie.
»Gut«, sagte er. »Wahrscheinlich ist er froh, daß er nicht hin muß.«
»Ich habe einen ganz süßen, alten Zahnarzt«, zwitscherte Liz. »Muß fast hundert sein. Er tut mir überhaupt nicht weh; er schabt einfach herum und aus.« Sie schob die Lippe mit dem rotlackierten Daumennagel hoch und zeigte ihm eine Goldplombe in einem oberen Backenzahn. Eine Wolke von Zigarettenrauch und Zimt wehte ihm entgegen, als er sich vorbeugte. »Sehen Sie?« sagte sie. »Riesengroß, und es hat nicht weh getan! Überhaupt nicht!«
Ich möchte wissen, was Margo sagen würde, dachte er. Wenn sie durch die automatische Glastür hereinkäme, die von selbst aufgeht, wenn man sich ihr nähert, und mich in Liz’ Mund starren sähe. Ertappt bei einer neuen modischen Lusttechnik, von der Kinsey noch nichts ahnte.
Das Geschäft war im Lauf des Nachmittags fast leer geblieben. Gewöhnlich strömten die Kunden an den Kassen vorbei, aber nicht heute. Die Rezession, glaubte Vic. Im Februar fünf Millionen Arbeitslose. Das bekommen wir zu spüren. Er ging zum Eingang und beobachtete die Passanten. Kein Zweifel. Weniger Leute als sonst. Alle zu Hause, beim Zählen der Ersparnisse.
»Das wird ein schlechtes Umsatzjahr«, sagte er zu Liz.
»Ach, was macht Ihnen das aus?« meinte Liz. »Ihnen gehört
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