Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Garou

Garou

Titel: Garou Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Swann
Vom Netzwerk:
und sah finster hinüber zum Futtertrog. Sein Kopf fühlte sich zwar etwas besser an, und seine Rippen schmerzten nicht mehr bei jedem Atemzug, aber Hals und Hufe stachen wie Brennnesseln von innen, kleine, scharfe, spitze Schmerze bei jeder falschen Bewegung. Die meisten Bewegungen waren falsche Bewegungen. Das Einzige, was sich gut anfühlte, war sein Name. »Heathcliff«! »Heathcliff« fühlte sich hervorragend an, wie etwas Warmes, Glühendes, Sattes im Inneren. Er überlegte, wie gut sich erst die Ziegen fühlen mussten. Voller Namen, rund und gesund.
    Heathcliff trabte hinüber zum Ziegenzaun und starrte sehnsüchtig durch die Latten.
    Auf einmal stand die kleine schwarze Ziege neben ihm, auf der Schafseite, und auch sie lehnte ihren Kopf gegen den Zaun.
    Heathcliff seufzte.
    »Ich wäre gerne eine Ziege«, sagte er.
    »Ich auch«, sagte Madouc.
    »Aber du bist eine Ziege!«, sagte Heathcliff.
    Madouc schüttelte den Kopf. »Der Hirt ist meine Mutter, deswegen ist es nicht so einfach. Man saugt es mit der Muttermilch auf, oder aber eben nicht. Wenn nicht, ist es kompliziert.«
    Heathcliff überlegte, was er so alles mit der Muttermilch aufgesogen hatte. Alles Mögliche, so viel stand fest. Er war von Mutterschaf zu Mutterschaf gestolpert und hatte Milch gestohlen, wo es eben ging. Und dann war George gekommen und hatte ihn mit einer Flasche gefüttert. Was war in der Flasche gewesen? Menschenmilch? Schafsmilch? Auf einmal hatte Heathcliff das Gefühl, dass in dieser Flasche Ziegenmilch gewesen sein könnte.
    Heathcliff atmete vorsichtig aus. Er fühlte sich wieder wie oben in der Eiche, schwindelig und unsicher und trotzdem gut. Er hatte sich seinen Namen aus den Asten einer Eiche geholt. Man musste die Dinge selbst zwischen die Hörner nehmen - selbst wenn die Hörner, wie in Heathcliffs Fall, noch kurz und stumpf waren.
    »Ich habe Ziegenmilch aufgesaugt«, sagte er dann.
    »Wirklich?«, Madouc sah ihn neidisch an.
    »Vielleicht können wir beide Ziegen werden«, sagte Heathcliff vorsichtig.
    »Warum nicht«, sagte Madouc.
     
    Nach der Zählaktion war Rebecca nochmals zum Schloss aufgebrochen, und kurze Zeit später kam sie schlecht gelaunt zurück.
    »Nicht zu erreichen!«, sagte sie zu Mama. »Kein Telefon, nichts! Wie vom Erdboden verschluckt! Vielleicht... vielleicht hat er ja einen Patienten!«
    »Hier?«, fragte Mama. »Ich dachte, seine Praxis ist in Paris.«
    »Ist sie auch«, sagte Rebecca. »Nur... gestern im Schloss habe ich einen Mann gesehen. Ich war auf dem Weg zum Klo und guckte aus dem Fenster, und schräg unter mir, auf einem kleinen Balkon zum Innenhof, steht ein Mann und raucht. Und so ein Gesicht... ich habe noch nie so ein Gesicht gesehen. Die eine Seite war... fast weg, würde ich sagen. Nichts als ein Loch. Und alles rot und frisch. Mir ist ganz kalt geworden. Und trotzdem stand er mit einer Seelenruhe da und rauchte. Ich … irgendwie war ich froh, dass er mich von dort unten nicht sehen konnte.«
    »Na siehst du«, sagte Mama. »Der Schnösel arbeitet.«
    »Trotzdem«, sagte Rebecca. »Er hätte sich melden können. Er hätte etwas sagen können, nicht?«
    »Was willst du überhaupt von ihm?«, fragte Mama. »Nach all dem, was du mir erzählt hast, würde ich mich von ihm fernhalten!«
    »Ich glaube, ich wollte ihm eine Chance geben«, sagte Rebecca. »Sich zu erklären. Irgendwie.«
    »Dich muss es ja ganz schön erwischt haben«, sagte Mama. »Es kommt kalt rein!«
    Sie zog die Schäferwagentür wieder hinter sich zu.
    Rebecca machte sich an einer Metalldose zu schaffen, und nach viel Fluchen und gutem Zureden gelang es ihr, sie aufzuklappen und den Inhalt in eine Schüssel zu kippen.
    Die Schafe machten lange Hälse, aber das Futter war für Vidocq, der unter dem Schäferwagen lag und traurig aussah.
    Die Schafe verstanden ihn ein bisschen: Er sah so aus wie ein Schaf, aber er war kein Schaf. Rebecca war seine neue Schäferin, aber er kannte sie kaum. Der große Hirtenhund war ziemlich allein. Rebecca schien das auch zu verstehen. Sie fuhr Vidocq freundlich durch die zottigen Stirnfransen, undVidocq wedelte matt mit dem Schwanz. Dann saßen Schäferin und Hirtenhund gemeinsam schwermütig vor dem Schäferwagen.
    »Das Leben!«, seufzte Rebecca, und Vidocqs Schwanz klopfte zustimmend auf das Holz der Schäferwagenstufen. Gerade als die allgemeine Melancholie dabei war, auch auf die Schafe überzugreifen, sprang Rebecca auf einmal von den Stufen und kroch selbst unter den

Weitere Kostenlose Bücher