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Garou

Garou

Titel: Garou Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Swann
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Ritchfield war in Sachen laut sprechen ein gutes Vorbild.
    Es dauerte eine Weile, bis Sir Ritchfield verstanden hatte, worum es ging.
    Dann aber richtete er sich vor dem fremden Schaf zu seiner vollen Leitwiddergröße auf, streckte seine imposanten Hörner in die Nacht und scharrte mit den Hufen im Schnee. Die anderen sahen ihn respektvoll an.
    »Widder!«, donnerte Sir Ritchfield würdevoll. »Manche Sachen sind da. Und manche Sachen sind nicht da. Und manche Sachen sind nur manchmal da. Und es ist nicht immer einfach, zu verstehen, was da ist und wann es da ist. Melmoth war da, und jetzt ist er nicht da, und irgendwie ist er doch da, und manchmal...«
    Ritchfield brach ab, starrte nachdenklich auf die Muster, die seine Hufe in den Schnee gezeichnet hatten, und dachte an Melmoth das Wanderschaf, seinen Zwilling, seinen Bruder, der damals so einfach über die Klippen verschwunden war. Dann fasste er sich wieder.
    »Wichtig ist zu wissen, was ein Schaf ist - und was nicht«, erklärte er dem fremden Widder. »Wir sind Schafe. Und wir sind da. Wie kann man das wissen? Weil wir nicht hier sein wollen! Man kann es immer am Wollen erkennen. Alles. Wenn wir nicht hier wären und nicht Schafe wären, würden wir nicht wegwollen! Aber wir sind da, und wir sind Schafe, und wir wollen nicht in den Pferch!«
    Die Schafe staunten. Ritchfield machte es gar nicht so schlecht. Auf einmal waren die Augen des fremden Widders wieder offen, und zum ersten Mal hatten die Schafe das Gefühl, dass er sie bemerkte.
    »Tourbe«, sagte er. »Farouche. Grignotte. Boiterie. Sourde. Tache? Aube?«
    Die Schafe verstanden kein Wort.
    »Aube?«, fragte der Fremde. »Páquerette? Gris? Marcassin? Pre-de-Puce?«
    »Er spinnt«, sagte Heide.
    Kein Wunder! So viel Wolle überall musste ein Schaf einfach verrückt machen.
    »Namen«, murmelte auf einmal das Winterlamm. »Das sind alles Namen.« Das Winterlamm selbst hatte keinen Namen. Die Schafe bekamen erst Namen, wenn sie ihren ersten Winter überstanden hatten.
    »Bist du das?«, fragte es. »Farouche Grignotte Gris Marcassin Tache? So viele?«
    »Aube!« Der Ungeschorene nickte traurig.
    Das Winterlamm sah ihn respektvoll an. Es hätte gerne auch seinen Namen gesagt, wenn es nur einen gehabt hätte.
    »Ich bin nur ich«, sagte es leise.
    »Ihr seid es nicht«, sagte der Fremde überrascht. »Aber fast! Genauso weiß. Sie waren so weiß, wisst ihr. Aube, Farouche. Sogar Gris. Davor. Wie gut, dass ihr noch weiß seid.«
    »Soso«, knurrte Othello.
    »Woher?«, flüsterte der Ungeschorene. »Warum?« Seine Stimme klang wie Laub im Wind. Dünn und sanft und sehr weit weg. »Seid ihr... früher? Vorher?«
    »Wir sind hier«, sagte Othello. »Jetzt. Darum geht es.«
    »Ihr müsst verschwinden!«, blökte der Fremde aufgeregt. »In alle Richtungen! Jeder für sich. Bleibt unter Bäumen! Bleibt im Schatten! Und bewegt euch nicht, wenn ihr ihn seht. Egal was ihr seht! Egal was! Seht weg! Seht weg! Wer flieht, ist sein!«
    »Er kann nicht den Tierarzt meinen!«, sagte Heide.
    »Das ist unsere Weide«, sagte Othello ruhig. »Wir fliehen nicht. Wir wollen nur nicht in den Pferch!«
    Die anderen Schafe waren ein wenig zurückgewichen. Jetzt, wo er sich so aufregte, hatte der Fremde begonnen, einen strengen und nicht besonders schafshaften Geruch von sich zu geben.
    »Wo sind die anderen?«, fragte er. »Farouche? Aube? Paquerette?«
    »Ich glaube, er frisst zu wenig!«, sagte Mopple leise. Und hickste.
    Mopple the Whale fraß zu viel.
    »Wo sind die anderen?«, fragte Cordelia sanft.
    Heide nieste. Eine Schneeflocke war mitten auf ihrer Nase gelandet. Eine zweite fuhr ihr wie eine kalte Träne ins Auge. Schon wieder Schnee! Die Vögel saßen still in den Zweigen, dick, flauschig und dunkel wie überdimensionale Palmkätzchen.
    Der Schnee brachte den Fremden vollkommen aus der Fassung. Seine Augen rollten. Sein ganzer großer bemooster Körper begann zu zittern. Es sah komisch aus.
    »Renn, Farouche!«, blökte er. »Er kommt! Er kommt aus dem Schrank! Gris! Aube! Flieht! Flieht jetzt!«
    Er drängte sich an den anderen Schafen vorbei und hetzte in einem seltsamen, schwerfälligen Galopp am Zaun entlang, im Zickzack über die Weide bis zu den Ginsterbüschen am Ziegenzaun. Dort blieb er stehen.
    Die Schafe äugten nervös nach allen Seiten, aber da war nichts. Nur der Schnee.
    »Gute Nerven hat er ja nicht«, sagte Zora schließlich.
    »Nein«, sagte Othello. »Das ist ein mutiger Widder. Ein sehr mutiger

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