Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Garou

Garou

Titel: Garou Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Swann
Vom Netzwerk:
Schneeflaum um ihre Hufe, schwarz die Stämme im Schnee.
    Schwarz die stummen Vögel über ihnen, weiß der Morgennebel, der aus dem Boden stieg. Schwarz die gezackten Aste, weiß die Wolken darüber. Schwarz Othello, der ihnen vorantrabte, weiß Maple, Lane und Cordelia, die ihm folgten, dicht gedrängt wie ein einziges Schaf. Schwarz Zoras hübsches Gesicht, weiß ihre makellose Wolle. Schwarz die Schatten. Schwarz die Spuren. Schwarz die Witterung, die zwischen den Wurzeln saß. Weiß Maude. Weiß Heide. Weiß sogar das Winterlamm.
    Schwarz ihr Verfolger, der in einiger Entfernung zwischen den Stämmen hindurchglitt, lautlos wie ein Gedanke.
    Nur Ritchfield blieb grau.
    »Das nächste Mal ist Sommer«, murmelte er.
     
    Reglos, lautlos veränderte sich der Wald um sie herum. Der Boden stieg an. Die Luft schmeckte heller und klarer. Das Unterholz verschwand. Die Stämme wurden dicker und gerader und rückten höflich ein wenig auseinander. Nicht viel, aber gerade genug für eine klassische, wenn auch etwas lang gezogene Herdenformation.
    Miss Maple ergriff die Chance und trabte schnell nach vorne, dicht neben Othello.
    Man musste zugeben, dass Othello ein ausgezeichneter Leitwidder war. Der Vierhörnige schritt entschlossen voran, nicht zu schnell und nicht zu langsam, die Hörner hoch, die Nüstern weit, die Augen aufmerksam in alle Richtungen. Eine Weile sah es so aus, als würde er Maple keine besondere Beachtung schenken. Er prüfte den Boden eines Hanges, der hart und doch seltsam nachgiebig unter den Hufen knirschte.
    »Nun?«, sagte er dann.
    »Es ist nicht nur der Tierarzt, nicht wahr?«, schnaufte Miss Maple, während sie vorsichtig neben Othello den Hang hinaufkletterte. »Es ist auch etwas anderes, nicht wahr?«
    Othello schwieg. Maple hatte Recht. Trotzdem war es einfacher, vor dem Tierarzt wegzulaufen. Sie kannten den Tierarzt. Er war schrecklich, aber er war nicht der Schnellste. Er trank Schnaps aus kleinen Flaschen und verhedderte sich im Kabel seiner eigenen Wollschneidemaschine. Das, was die schwarze Ziege und der Ungeschorene erzählt hatten hingegen ... und vor allem das, was sie nicht erzählt hatten... Es war besser, vor etwas davonzulaufen, das man kannte!
    »Die Menschen ...«, sagte Othello nachdenklich. Er war sich nicht sicher, wie er es sagen sollte. Oder was er sagen sollte. »Die Menschen hier und die Ziegen und das fremde Schaf... sie erinnern sich an etwas. Und sie warten auf etwas.«
    Miss Maple nickte. Heute früh, als sie im Morgengrauen über die Ziegenweide getrabt waren, taten die Ziegen das, was sie immer taten. Sie guckten unschuldig, sprangen herum, stanken und fanden überall Futter. Alle bis auf eine. Eine Ziege stand auf dem Sofa, etwas entfernt, und ließ den Wald nicht aus den Augen.
    Ein Wachposten. Ein Späher. Graue Ziegenaugen gegen das blendende Weiß des Schnees.
    »Manchmal ist es besser, nicht zu lange zu warten!« Othello schnaubte. »Manchmal ist es besser, einfach wegzugehen. Ich glaube, etwas, vor dem sich Menschen und Ziegen und Schafe fürchten, ist sehr gefährlich«, sagte er leise. »Wie Feuer.«
    In diesem Augenblick hörten sie wieder das Heulen, dünn und verloren zwischen den Stämmen, leise wie eine Erinnerung. Ungeheuer fern.
     
    Alle hatten sie Namen! Alle! Der alte Widder, der alles vergaß, und der junge Widder, der sich vor allem fürchtete. Das Winterlamm war weder besonders vergesslich noch besonders furchtsam. Wen interessierte das? Die Schafe bekamen erst Namen, wenn sie ihren ersten Winter überstanden hatten. Aber das Winterlamm war mitten im Winter auf die Welt gekommen, in einer kalten, dunklen Nacht vor etwa einem Jahr. Es hatte Milch gestohlen und Nähe und Wärme. Und im Frühjahr hatte es eben nur einen halben Winter überstanden. Und jetzt steckte es mitten in seinem zweiten Winter, und nichts! Nichts! Das Winterlamm kickte zornig nach dem Schnee. Wenn es gewusst hätte, wo man Namen findet, wäre es losgezogen, um einen zu stehlen. Etwas Schwarzes huschte hinter ihm vorbei. Das Winterlamm vergaß für einen Moment den geplanten Namensraub und spähte zitternd in den Wald. Schweigende Stämme, sonst nichts. Trotzdem hatte sich gerade noch etwas bewegt. Da, wieder! Schnell und schwarz, von Stamm zu Stamm. Mitten zwischen zwei Stämmen merkte die kleine Ziege, dass sie ertappt worden war. Sie hielt in der Bewegung inne, einen Vorderlauf zierlich angewinkelt, und blickte frech zu dem Winterlamm hinüber.
    »Warum folgst du uns?«,

Weitere Kostenlose Bücher