Garp und wie er die Welt sah
Sie
ließ sich auf eine Matte plumpsen, um zu spüren, wie es sich anfühlte, und
schlug gleich noch einen Purzelbaum (wobei sie sich das Kleid aufriss). Dann
erst setzte sie sich auf der Matte auf und blickte zu dem stämmigen Jungen auf,
der plötzlich groß und breit in der Tür des dunklen Raumes stand. Es war
Carlisle, der Ringer, der sein Mittagessen von sich gegeben hatte; er hatte
sich umgezogen und war zurückgekommen, um sich noch eine weitere Strafe
abzuholen, und starrte nun zu der leuchtend weißen Schwester hin, die am
anderen Ende des Raums auf einer dunkelroten Matte wie eine Bärin in ihrer
Höhle hockte.
[122] »Verzeihung, Madam«, sagte er.
»Ich habe nur jemanden zum Trainieren gesucht.«
»Na, da dürfen Sie mich nicht anschauen«, sagte Jenny. »Laufen Sie Ihre
Runden!«
»Ja, Madam«, sagte Carlisle und
trabte davon.
Als sie die Tür hinter sich zuzog
und das Schloss zuschnappte, merkte sie, dass sie ihre Schuhe vergessen hatte.
Der Pförtner war außerstande, den richtigen Schlüssel zu finden, lieh ihr dafür
die Basketballschuhe eines großen Jungen, die im Fundbüro abgegeben worden
waren und in denen Jenny nun über den gefrorenen Matsch zur Krankenstation
schlurfte. Sie hatte das Gefühl, dass ihr erster Ausflug in die Welt des Sports
sie mehr als ein bisschen verändert hatte.
Im Nebengebäude lag Garp in
seinem Bett und hustete und hustete.
»Ringen!«, krächzte er. »Großer
Gott, Mom, willst du, dass ich umgebracht werde?«
»Ich glaube, der Trainer wird dir
gefallen«, sagte Jenny. »Ich habe ihn kennengelernt, und er ist ein netter
Mann. Ich habe auch seine Tochter kennengelernt.«
»O Gott«, stöhnte Garp. »Seine Tochter ringt?«
»Nein, sie liest viel«, sagte
Jenny beifällig.
»Klingt aufregend, Mom«, sagte
Garp. »Begreifst du nicht, dass es mich den Hals kosten kann, wenn du mich mit
der Tochter des Ringtrainers zusammenbringst? Willst du das?«
Aber Jenny hatte absolut keine
Hintergedanken. Sie dachte wahrhaftig nur an den Ringerraum und an Ernie Holm;
ihre Gefühle für Helen waren ausschließlich [123] mütterlich, und als ihr rüder
Sohn ihr unterstellte, ihn mit Helen Holm verkuppeln zu wollen – wobei er gar
nicht abgeneigt wirkte –, war Jenny eher besorgt. Ihr war bisher noch gar nicht
in den Sinn gekommen, dass ihr Sohn sich auf diese Weise für jemanden
interessieren könnte – zumindest noch lange nicht. Jedenfalls fand sie es sehr
beunruhigend, und alles, was ihr dazu einfiel, war: »Du bist erst fünfzehn
Jahre alt. Vergiss das nicht.«
»Na, und wie alt ist seine Tochter?«,
fragte Garp. »Und wie heißt sie?«
»Helen«, antwortete Jenny. »Sie
ist auch erst fünfzehn. Und sie ist Brillenträgerin«, fuhr sie scheinheilig
fort. Immerhin wusste sie ja, was sie selbst von
Brillen hielt, und vielleicht mochte Garp sie auch. »Die beiden sind aus Iowa «, fügte sie hinzu und fand, dass sie ein größerer
Snob war als die verhassten Möchtegern-Aristokraten, die an der Steering School
den Ton angaben.
»Mein Gott, ringen «, stöhnte Garp wieder, und Jenny war erleichtert, dass er vom
Thema »Helen« abkam. Es war ihr peinlich, wie sehr sie eindeutig gegen eine
Entwicklung in diese Richtung war. Das Mädchen ist hübsch, dachte sie – wenn
auch nicht auf den ersten Blick, und ist es nicht so, dass Halbstarke nur
auffällige Mädchen mögen? Und wäre es mir etwa lieber, wenn Garp sich für ein auffälliges Mädchen interessierte?
Was die auffällige Sorte Mädchen
betraf, so war Cushie Percy Jenny ein Dorn im Auge: ein reichlich loses
Mundwerk, ein bisschen zu provozierend in ihrem Äußeren – und musste eine Fünfzehnjährige
aus gutem Hause wie Cushman Percy schon so entwickelt sein? Dann hasste sich [124] Jenny
dafür, dass sie das »aus gutem Hause« auch nur gedacht hatte.
Es war ein verwirrender Tag für
sie gewesen. Sie fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf, in dem sie sich
ausnahmsweise nicht vom Husten ihres Sohnes stören ließ, denn ihr schwante,
dass ihm ernstere Sorgen bevorstanden. Gerade jetzt, wo ich dachte, wir hätten
es geschafft!, dachte Jenny noch und: Ich müsste mit jemandem über Jungen reden – mit Ernie Holm, vielleicht; sie
hoffte, dass sie sich nicht in ihm geirrt hatte.
Es stellte sich heraus, dass sie
mit dem Ringerraum richtiggelegen hatte – wie auch mit ihrer Vermutung, dass
ihr Garp sich dort sehr wohl fühlen würde. Der Junge mochte Ernie ebenfalls. In
seiner ersten Ringersaison arbeitete
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