Garp und wie er die Welt sah
heiraten
werde.«
Garp hatte versucht zu scherzen;
Helens Ernst machte ihn nervös. Er sagte: »Na, ich bin jedenfalls sicher, dass
du keinen Ringer heiraten wirst.«
»Da kannst du ganz sicher sein«,
sagte Helen. Vielleicht konnte der junge Garp seinen Kummer nicht ganz
verhehlen, jedenfalls fügte Helen hinzu: »Höchstens einen Ringer, der auch
Schriftsteller ist.«
»Aber in erster Linie und vor
allem anderen Schriftsteller«, vermutete Garp.
»Ja, ein richtiger Schriftsteller«, sagte Helen geheimnisvoll – aber bereit zu
erklären, was sie damit meinte. Garp wagte nicht, sie danach zu fragen. Er ließ
sie weiterlesen.
Es war ein langer Weg die
Stadionstufen hinunter; er schleifte seinen Speer hinter sich her. Ob sie wohl
irgendwann einmal etwas anderes anziehen wird als diesen grauen
Trainingsanzug?, überlegte er. Später schrieb Garp, dass er Vorstellungskraft
besaß, habe er zum ersten Mal entdeckt, als er sich Helen Holms Körper
vorzustellen versuchte. »Da sie immer in diesem verdammten Trainingsanzug [128] steckte«,
schrieb er, »musste ich mir ihren Körper vorstellen – eine andere Möglichkeit,
ihn zu sehen, gab es nicht.« Garp stellte sich Helens Körper sehr schön vor –
und nirgendwo in seinem Werk stand, dass er enttäuscht war, als er endlich die
Realität sah.
An diesem Nachmittag im leeren
Stadion, als Froschfleisch an der Spitze seines Speers klebte, geschah es, dass
Helen Holm seine Vorstellungskraft anregte und dass T.S. Garp den Entschluss
fasste, Schriftsteller zu werden. Ein richtiger Schriftsteller, wie Helen gesagt hatte.
[129] 4
Abschlussprüfung
T.S. Garp schrieb in
seiner Zeit an der Steering School jeden Monat eine Kurzgeschichte, vom Ende
seines ersten Jahres bis zur Abschlussprüfung, doch erst in seinem vorletzten
Jahr bekam Helen eine Kostprobe davon zu lesen. Nach ihrem ersten Jahr als
Zuschauerin an der Steering School kam Helen auf die Talbot Academy für
Mädchen, und Garp sah sie nur noch gelegentlich am Wochenende. Manchmal kam sie
zu den Turnieren der Ringermannschaft. Einmal, nach einem solchen Kampf, bat
Garp sie, auf ihn zu warten, bis er geduscht hätte: Er habe etwas in seinem
Spind, das er ihr geben wolle.
»O
Mann«, sagte Helen. »Deine alten Ellbogenschützer?«
Sie betrat den Ringerraum nicht
mehr, auch dann nicht, wenn sie in den großen Ferien nach Hause kam. Sie trug
dunkelgrüne Kniestrümpfe und einen grauen Faltenrock aus Flanell; ihr Pullover,
der immer dunkel und dezent war, war farblich meist auf die Kniestrümpfe
abgestimmt, und ihre langen dunklen Haare waren immer zurückgekämmt, auf dem
Kopf zu einem Kranz geflochten oder sonst wie kompliziert hochgesteckt. Sie
hatte einen breiten Mund und sehr dünne Lippen, und sie benutzte nie
Lippenstift. Garp wusste, dass sie immer gut roch, aber er berührte sie [130] nie.
Er ging davon aus, dass auch sonst niemand das tat; sie war gertenschlank und
fast so groß wie ein junger Baum und damit fünf Zentimeter größer als Garp, und
sie hatte ausgeprägte, spitze Wangenknochen, während ihre Augen hinter der
Brille immer sanft und groß und von einem satten Honigbraun waren.
»Deine alten Ringerschuhe?«,
fragte ihn Helen mit einem neugierigen Blick auf den großen verschlossenen
Umschlag.
»Es ist etwas zu lesen«, sagte
Garp.
»Ich hab so schon eine Menge zu
lesen«, sagte Helen.
»Es ist etwas, das ich
geschrieben habe«, verkündete Garp.
»O Mann«, sagte Helen.
»Du brauchst es nicht gleich zu
lesen«, erklärte Garp. »Du kannst es mitnehmen, wenn du zur Schule
zurückfährst, und mir dann schreiben, wie du’s findest.«
»Ich hab so schon eine Menge zu
schreiben«, sagte Helen. »Ich muss dauernd Referate schreiben.«
»Wir können auch später darüber
reden«, sagte Garp. »Bist du an Ostern hier?«
»Ja, aber da habe ich schon etwas
vor«, sagte Helen.
»O Mann«, sagte Garp. Doch als er
die Hand ausstreckte, um seine Kurzgeschichte wieder an sich zu nehmen, waren
die Knöchel ihrer schmalen Hand sehr weiß, und sie wollte das Päckchen nicht
loslassen.
In seinem vorletzten Jahr
beendete Garp die Saison in der 60-Kilo-Klasse mit zwölf Siegen und einer
Niederlage, Letztere bei den Endkämpfen um die Meisterschaft von Neuengland. In
seinem letzten Jahr sollte er alles [131] gewinnen – die Wahl zum
Mannschaftskapitän, die Wahl zum besten Ringer des Jahres, den Titel von
Neuengland. Seine Mannschaft sollte eine fast zwanzigjährige Vorherrschaft von
Ernie Holms
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