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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Mädchen in Ringerräumen sie zu einer großen
Leserin gemacht hatte. »Ich bin als Zuschauerin aufgewachsen«, sagte Helen.
»Ich bin zur Voyeurin erzogen worden.«
    Sie war eine so gute und
unermüdliche Leserin, dass Ernie Holm nur ihretwegen an die Ostküste gezogen
war. Er hatte die Stelle an der Steering School wegen Helen angenommen: In
seiner Stellenbeschreibung hatte er gelesen, dass die Kinder der Lehrer und
anderen Mitarbeiter die Steering School gratis besuchen konnten – oder sie
erhielten den entsprechenden Betrag für den Besuch einer anderen Privatschule.
Ernie Holm selbst war ein schlechter Leser; irgendwie hatte er die Tatsache
übersehen, dass die Steering School nur Jungen aufnahm.
    So zog er im Herbst ins frostige
Steering und meldete seine Tochter wieder einmal in einer kleinen schlechten
staatlichen Schule an. Wahrscheinlich war die staatliche [114]  Schule in Steering
sogar noch schlechter als die meisten anderen staatlichen Schulen, weil die
gescheiten Jungen aus dem Ort alle die Steering School besuchten und die
gescheiten Mädchen alle fortgingen. Ernie Holm hatte nicht einkalkuliert, dass
er seine Tochter würde fortschicken müssen – er war ja extra umgezogen, um bei
ihr zu bleiben. Während er sich an seine neuen Pflichten gewöhnte, erkundete
Helen Holm die Randbezirke der großen Steering School, verschlang die Bücher
aus der Buchhandlung und der Bibliothek (und hörte dabei zweifellos Geschichten
über die andere große Leserin in Steering: Jenny
Fields); und Helen fuhr fort, sich wie in Iowa unter ihren langweiligen
Klassenkameraden auf ihrer langweiligen staatlichen Schule zu langweilen.
    Ernie Holm hatte ein Gespür für
Leute, die sich langweilten. Er hatte sechzehn Jahre vorher eine
Krankenschwester geheiratet; als Helen geboren wurde, gab die Krankenschwester
die Krankenpflege auf, um eine Ganztagsmutter zu sein. Nach sechs Monaten
wollte sie wieder Krankenschwester werden, aber damals gab es in Iowa noch
keine Kindertagesstätten, und Ernie Holms junge Frau entfernte sich nach und
nach mehr von ihm unter dem Druck, eine Ganztagsmutter und Exkrankenschwester
zu sein. Und eines Tages verließ sie ihn. Sie hinterließ ihm eine
Ganztagstochter und keine Erklärung.
    So wuchs Helen Holm in
Ringerräumen auf – ein sehr sicherer Ort für kleine Kinder, da sie rundherum
gepolstert und immer schön warm sind. Bücher hatten Helen davor bewahrt, dass
sie sich langweilte. Ernie Holm fragte sich allerdings besorgt, wie lange Fleiß
und Interesse [115]  seiner Tochter wohl noch in einem Vakuum genährt werden
konnten. Ernie war überzeugt, dass seine Tochter zumindest die Gene für Langeweile hatte.
    Deshalb war er nach Steering
gegangen. Und deshalb war Helen, die ebenfalls eine Brille trug – und ebenso
sehr darauf angewiesen war wie ihr Vater –, an dem Tag, als Jenny Fields in den
Ringerraum kam, bei ihrem Vater. Jenny bemerkte Helen nicht; wenige Leute
bemerkten Helen, als sie fünfzehn war. Helen bemerkte Jenny dagegen sofort;
Helen war insofern anders als ihr Vater, als sie nicht mit Jungen rang oder
Schritte und Griffe demonstrierte, und deshalb behielt sie ihre Brille auf.
    Helen Holm hielt fortwährend
Ausschau nach Krankenschwestern, weil sie fortwährend Ausschau nach ihrer
verschwundenen Mutter hielt, nach der ihr Vater nie gesucht hatte. Bei Frauen
hatte Ernie Holm einige Erfahrung darin, Ablehnung zu akzeptieren. Doch als
Helen klein gewesen war, hatte Ernie ihr oft eine Geschichte erzählt, von der
er sich zweifellos selbst gewünscht hätte, dass sie in Erfüllung ging – eine
Geschichte, die auch Helen immer gefesselt hatte. »Eines Tages«, so lautete das
Ende der Geschichte, »begegnest du vielleicht einer hübschen Krankenschwester,
die so aussieht, als wüsste sie nicht, wo sie ist,
und sie blickt dich vielleicht an, als wüsste sie auch nicht, wer du bist – aber sie sieht vielleicht so aus, als würde sie
es gern herausfinden.«
    »Und das ist dann meine Mutter?«,
fragte Helen immer.
    »Und das ist dann deine Mutter!«,
sagte Ernie immer.
    So kam es, dass Helen Holm, als
sie im Ringerraum von Steering von ihrem Buch aufblickte, ihre Mutter zu sehen [116]  glaubte.
Jenny Fields in ihrer weißen Schwesterntracht wirkte immer fehl am Platz; hier,
auf den dunkelroten Matten der Steering School, sah sie dunkelhaarig und
gesund, kräftig gebaut und gut aus, wenn auch nicht unbedingt hübsch, und Helen
Holm muss gedacht haben, keine andere Frau würde sich in

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