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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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dieses weichbodige
Inferno wagen, wo ihr Vater arbeitete. Helens Brille beschlug, sie klappte das
Buch zu; in ihrem anonymen grauen Trainingsanzug, der ihre noch schlaksige
Gestalt – ihre spitzen Hüften und ihre kleinen Brüste – verbarg, lehnte sie
sich linkisch an die Wand des Ringerraums und wartete darauf, dass ihr Vater
ein Zeichen des Erkennens von sich gab.
    Aber Ernie Holm tastete immer
noch nach seiner Brille; wie im Nebel sah er die weiße Gestalt – irgendwie
weiblich, vielleicht eine Krankenschwester –, und sein Herzschlag stockte bei
der Möglichkeit, an die er nie wirklich geglaubt hatte: die Rückkehr seiner
Frau, ihre Worte »Oh, wie ich dich und unsere Tochter vermisst habe!« Welche andere Krankenschwester hätte seine Arbeitsstätte schon
betreten sollen?
    Helen sah die unbeholfenen Gesten
ihres Vaters und fasste sie als das erforderliche Zeichen auf. Sie ging über
die warmen Matten auf Jenny zu, und Jenny dachte: Mein Gott, das ist ja ein Mädchen ! Ein hübsches Mädchen mit Brille. Was tut ein
hübsches Mädchen an solch einem Ort?
    »Mom?«, sagte das Mädchen zu
Jenny. » Ich bin’s, Mom! Helen «,
sagte sie und brach in Tränen aus; sie warf ihre dünnen Arme um Jennys
Schultern und presste ihr nasses Gesicht an Jennys Hals.
    »Lieber Himmel!«, sagte Jenny
Fields, die sich noch nie [117]  gern hatte anfassen lassen. Aber schließlich war
sie Krankenschwester, und sie musste Helens Hilfsbedürftigkeit gespürt haben;
sie schob das Mädchen nicht von sich, obwohl sie ganz genau wusste, dass sie
nicht Helens Mutter war. Jenny Fields fand, ein Mal Mutter geworden zu sein, sei vollauf genug. Kühl tätschelte sie den Rücken des
weinenden Mädchens und blickte flehentlich zu dem Ringertrainer, der in diesem
Augenblick seine Brille wiedergefunden hatte. »Ich bin auch nicht Ihre Mutter«, sagte Jenny höflich zu ihm, denn er sah sie
mit der gleichen jähen Erleichterung an, die Jenny im Gesicht des hübschen
Mädchens bemerkt hatte.
    Ernie Holm seinerseits dachte,
die Ähnlichkeit ginge weiter als die Schwesterntracht und der Zufall, dass ein
Ringerraum im Leben zweier Krankenschwestern eine Rolle spielte; aber Jenny war
nicht so hübsch wie Ernies davongelaufene Frau, und Ernie dachte, selbst
fünfzehn Jahre hätten Helens Mutter nicht in eine so unauffällige und bloß
hübsche Frau verwandeln können, wie Jenny eine war. Trotzdem sah Jenny in Ernie
Holms Augen nett aus, und er lächelte nun dasselbe undeutliche, um
Entschuldigung bittende Lächeln, das er manchem Schüler schenkte, wenn er ein
Ringermatch verloren hatte.
    »Meine Tochter hat gedacht, Sie
wären ihre Mutter«, sagte Ernie Holm zu Jenny. »Sie hat ihre Mutter eine ganze
Weile nicht mehr gesehen.«
    Offensichtlich, dachte Jenny Fields. Sie spürte, wie das Mädchen sich anspannte und aus ihren
Armen löste.
    »Das ist nicht deine Mom,
Liebling«, sagte Ernie Holm zu Helen, die bis zur Wand des Ringerraums floh;
sie war [118]  ein sprödes Mädchen, ganz und gar nicht gewohnt, ihre Emotionen zu
zeigen – nicht einmal ihrem Vater.
    »Und haben Sie gedacht, ich sei
Ihre Frau ?«, fragte Jenny Ernie, weil sie einen
Augenblick den Eindruck gehabt hatte, auch er hätte sie verwechselt. Sie
überlegte, eine wie lange »Weile« Mrs. Holm wohl schon fort sein mochte.
    »Sie haben mich eine Sekunde lang
getäuscht«, sagte Ernie höflich mit einem schüchternen Lächeln, das er nur
sparsam verwendete.
    Helen hockte sich in einer Ecke
des Ringerraums auf den Boden und starrte Jenny wütend an, als hätte Jenny sie
absichtlich in Verlegenheit gebracht. Jenny war gerührt; es war Jahre her, dass
Garp sie so umarmt hatte, und es war ein Gefühl, das selbst eine nur
gelegentliche Mutter wie Jenny manchmal vermisste, wie sie sich jetzt
erinnerte.
    »Wie
heißt du?«, fragte sie Helen. »Ich bin Jenny Fields.«
    Das war natürlich ein Name, den
Helen Holm kannte. Sie war die geheimnisvolle andere Bücherleserin an der
Steering School. Außerdem hatte Helen noch nie einem Menschen die Gefühle
entgegengebracht, die sie für eine Mutter bewahrt hatte, und obwohl es Zufall
gewesen war, dass sie Jenny diese Gefühle hatte zukommen lassen, fand sie es
schwer, sie nun gänzlich zurückzunehmen. Sie hatte das schüchterne Lächeln
ihres Vaters, und sie sah Jenny dankbar an; seltsamerweise verspürte Helen den
Wunsch, Jenny abermals in die Arme zu nehmen, aber sie hielt sich zurück.
Inzwischen trotteten wieder Ringer in den Raum; sie

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