Garp und wie er die Welt sah
Garp hart und gern, um die Schritte und
Griffe zu lernen. Obwohl er von den Schülern seiner Gewichtsklasse kräftig
durchgewalkt wurde, beklagte er sich nie. Er wusste, dass er seinen Sport und
sein Hobby gefunden hatte. Es sollte fast seine ganze Energie beanspruchen, bis
das Ringen vom Schreiben abgelöst wurde. Garp liebte die Zielgerichtetheit beim
Ringen und den beängstigend engen, auf die Matte gemalten Kreis, in dem die
Kämpfe ausgetragen wurden; er liebte die körperliche Disziplin, die es kostete,
um in Form zu bleiben, und die geistige, um sein Gewicht niedrig zu halten. Und
wie Jenny zu ihrer Erleichterung feststellte, sprach Garp in dieser ersten
Saison kaum von Helen Holm, die mit ihrer Brille und in ihrem grauen
Trainingsanzug einfach nur dasaß und las und nur aufsah, wenn jemand
ungewöhnlich laut auf die Matte klatschte oder vor Schmerz aufschrie.
[125] Helen hatte Jennys Schuhe zum
Nebengebäude der Krankenstation zurückgebracht, und Jenny war so verlegen, dass
sie das Mädchen nicht einmal hereinbat. Dabei waren sie einander im ersten
Augenblick so nah gewesen! Aber Garp war zu Hause, und Jenny wollte die beiden
nicht miteinander bekannt machen. Und außerdem war Garp erkältet.
Eines Tages saß Garp im Ringerraum
neben Helen. Er war sich bewusst, dass er einen großen Pickel im Nacken hatte
und stark schwitzte. Ihre Brille war so beschlagen, dass Garp zweifelte, ob sie
überhaupt sehen konnte, was sie las. »Du liest ja eine Menge«, sagte er zu ihr.
»Nicht so viel wie deine Mutter«,
sagte Helen, ohne ihn anzusehen.
Zwei Monate später sagte Garp zu
Helen: »Du kannst dir die Augen verderben, wenn du in einem so heißen Raum
liest.« Sie sah ihn an, ihre Brille war diesmal sehr klar und vergrößerte ihre
Augen auf eine für ihn erschreckende Weise.
»Ich hatte schon immer verdorbene
Augen«, sagte sie. »Ich bin mit schlechten Augen geboren.« Aber für Garp waren
es sehr hübsche Augen; so hübsch, dass ihm nichts mehr einfiel, was er ihr
sagen konnte.
Dann war die Ringersaison vorbei.
Garp wurde in die Juniorauswahl aufgenommen und meldete sich für Leichtathletik
an, weil er sich für irgendeinen Frühjahrssport entscheiden musste. Seine
Kondition war von der Ringersaison so gut, dass er beim Meilenlauf mitmachen
konnte; er war der drittbeste Meilenläufer der Steering-Mannschaft, [126] aber er
würde nie besser werden, denn nach einer Meile hatte Garp das Gefühl, nun habe
er erst richtig angefangen. (»Offenbar war ich unterbewusst schon damals ein
Romancier«, sollte Garp Jahre später schreiben.) Er versuchte sich auch im
Speerwerfen, aber er warf nicht weit.
Die Speerwerfer von der Steering
School trainierten hinter dem Footballstadion, wo sie viel Zeit damit
verbrachten, Frösche aufzuspießen. Hinter dem Seabrook-Stadion verlief einer
der Süßwasserzuflüsse des Steering River, in dem viele Speere verlorengingen
und viele Frösche massakriert wurden. Der Frühling bekommt mir nicht, dachte
Garp, der ruhelos war, weil er das Ringen vermisste; wenn er schon nicht ringen
konnte, sollte wenigstens bald der Sommer kommen, dachte er, damit er auf der
Straße zum Strand von Dog’s Head Harbor Langstreckenlauf üben könnte.
Eines Tages sah er Helen Holm im
obersten Rang des leeren Seabrook-Stadions allein mit einem Buch sitzen. Er
kletterte die Stufen zu ihr hinauf und zog seinen Speer auf dem Zement nach,
damit sie nicht erschrak, wenn er plötzlich neben ihr auftauchte. Doch Helen
erschrak nicht. Sie hatte ihn und die anderen Speerwerfer seit Wochen
beobachtet.
»Hast du für heute genug kleine
Tiere gemordet?«, fragte sie ihn. »Bist du auf der Jagd nach etwas anderem?«
»Von Anfang an«, sollte Garp
später schreiben, »fielen Helen immer die richtigen Worte ein.«
»Ich finde, du solltest
Schriftstellerin werden, wenn du so viel liest«, sagte Garp zu Helen. Er gab
sich Mühe, ungezwungen zu wirken, verdeckte aber schuldbewusst die Speerspitze
mit seinem Schuh.
[127] »Keine Chance«, sagte Helen.
Sie hatte diesbezüglich keinerlei Zweifel.
»Na, vielleicht kannst du ja
einen Schriftsteller heiraten«, sagte Garp zu ihr.
Da sah sie zu ihm auf; ihr
Gesicht war sehr ernst, und die neue Sonnenbrille, die ihr verordnet worden
war, passte besser zu ihren hohen Wangenknochen als die letzte, die ihr immer
die Nase heruntergerutscht war.
»Wenn ich überhaupt heirate, dann
nur einen Schriftsteller«, sagte sie. »Aber ich bezweifle, dass ich je
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