Garp und wie er die Welt sah
andere Geschichte.
Zwar besaß er für einen
Achtzehnjährigen ungewöhnlich viel Selbstdisziplin, doch gab es einfach zu viel
zu sehen; zusammen mit den Dingen, für die er nun plötzlich verantwortlich war,
hatte Garp eine Menge um die Ohren, und monatelang waren seine einzigen
befriedigenden schriftstellerischen Versuche seine Briefe an Helen. Er fand
sein neues Territorium viel zu aufregend, um sich täglich die Zeit zum
Schreiben zu nehmen, obwohl er es versuchte.
Er versuchte, eine Geschichte
über eine Familie zu schreiben; als er anfing, wusste er nur, dass die Familie
ein interessantes Leben führte und dass alle Familienmitglieder einander sehr
nahestanden. Das reichte aber nicht.
Jenny und Garp zogen in eine
cremefarbene Wohnung mit hohen Räumen im zweiten Stock eines Altbaus in der
Schwindgasse, einer kleinen Straße im vierten Bezirk. Die Prinz-Eugen-Straße,
der Schwarzenbergplatz und das Untere und Obere Belvedere waren gleich um die
Ecke. Garp besuchte nach und nach sämtliche Museen der Stadt, aber Jenny ging
nur ins Obere Belvedere. Garp erklärte ihr, dass das Obere Belvedere lediglich
Gemälde des 19. und [167] 20. Jahrhunderts enthielt. Aber Jenny sagte, dass das
19. und 20. Jahrhundert ihr reichten. Garp meinte, sie könne doch wenigstens
durch den Garten zum Unteren Belvedere gehen und sich die Barocksammlung
anschauen, aber Jenny schüttelte den Kopf; sie habe an der Steering School
mehrere kunstgeschichtliche Vorträge besucht, das genüge fürs Erste.
»Und die Breughels, Mom!«, sagte
Garp. »Du fährst einfach mit der Straßenbahn den Ring hinauf und steigst an der
Mariahilfer Straße aus. Das große Museum gegenüber der Haltestelle ist das
Kunsthistorische.«
»Aber zum Belvedere kann ichzu Fußgehen«, sagte Jenny.
»Warum soll ich da Straßenbahn fahren?«
Sie konnte auch zur Karlskirche
gehen, und dort gab es, ein kurzes Stück die Argentinierstraße hinauf, einige
interessant aussehende Botschaftsgebäude. Die Bulgarische Botschaft war genau
gegenüber ihrer Wohnung in der Schwindgasse. Jenny hielt sich gern, wie sie
sagte, in ihrem eigenen Viertel auf. Eine Straße weiter gab es ein Kaffeehaus;
dort ging sie manchmal hin und las die englischsprachigen Zeitungen. Sie ging
nie außer Haus essen, außer, wenn Garp sie mitnahm; und wenn er nicht in der
Wohnung für sie kochte, aß sie gar nichts zu Hause. Sie war völlig von der Idee
in Anspruch genommen, irgendetwas zu schreiben – mehr als Garp, jedenfalls in
dieser Phase.
»Ich habe keine Zeit, an diesem
Punkt in meinem Leben die Touristin zu spielen«, erklärte sie ihrem Sohn. »Aber
lass dich nicht hindern, saug die Kultur auf. Das solltest du jedenfalls tun.«
»Aufnehmen, aufne-ne-nehmen«,
hatte Tinch zu ihnen [168] gesagt. Und Jenny fand, genau das sei es, was Garp tun
sollte; was sie anging, so war sie der Meinung, sie habe schon genug
aufgenommen, um eine Menge zu sagen zu haben. Jenny Fields war einundvierzig.
Sie stellte sich vor, der interessante Teil ihres Lebens liege hinter ihr;
alles, was sie wollte, war, darüber zu schreiben.
Garp gab ihr einen Zettel, den
sie immer dabeihaben sollte. Auf dem Zettel stand ihre Adresse – für den Fall,
dass sie sich verlief: Wien IV , Schwindgasse
15/2. Garp hatte ihr beigebracht, wie sie es aussprechen musste – eine mühsame
Lektion. »Schwindgassefünfzehnzwei!«, ratterte Jenny.
»Noch einmal«, sagte Garp. »Oder
willst du nicht wieder zurück, wenn du dich verlaufen
hast?«
Garp erkundete tagsüber die Stadt
und fand Lokale, in die er Jenny abends oder spätnachmittags, wenn sie mit dem
Schreiben fertig war, ausführen konnte: Sie tranken ein Bier oder einen
Schoppen Wein, und Garp beschrieb ihr, was er den Tag über getan und erlebt
hatte. Jenny hörte höflich zu. Wein oder Bier machten sie müde. Gewöhnlich aßen
sie irgendwo gemütlich zu Abend, und Garp brachte Jenny mit der Straßenbahn
nach Hause; er war sehr stolz darauf, dass er nie ein Taxi zu nehmen brauchte,
weil er das Straßenbahnnetz so gründlich studiert hatte. Manchmal ging er
morgens auf den Markt und kam zeitig heim und kochte den ganzen Nachmittag.
Jenny beklagte sich nie; ihr war es gleichgültig, ob sie zu Hause oder außer
Haus aßen.
»Das ist ein Gumpoldskirchner«,
sagte Garp etwa über den Wein. »Er passt sehr gut zu Schweinebraten. «
»Was für lustige Worte«, bemerkte
Jenny.
In einer typischen Bewertung von
Jennys Prosastil [169] schrieb Garp später: »Meine Mutter
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