Garp und wie er die Welt sah
er, kam mühsamer zum Vorschein als
die Erinnerung.
Sein »Durchbruch«, wie er es in
einem Brief an Helen nannte, ereignete sich an einem kalten und verschneiten
Tag im Historischen Museum der Stadt Wien. Es war von der Schwindgasse aus
bequem zu Fuß zu erreichen; irgendwie hatte er es bisher ausgelassen, da er
wusste, dass er jederzeit hingehen konnte. Jenny erzählte ihm davon. Es war
eine der zwei oder drei Sehenswürdigkeiten, die sie tatsächlich selbst besucht
hatte – eben weil es gleich auf der anderen Seite des Karlsplatzes und damit
noch durchaus, wie sie es nannte, in ihrem Viertel lag.
Sie erwähnte, im Museum befinde
sich das Zimmer eines Schriftstellers; den Namen des Schriftstellers hatte sie
vergessen. Sie fand es eine interessante Idee, das Zimmer eines Schriftstellers
in einem Museum auszustellen.
»Das Zimmer eines Schriftstellers, Mom?«, fragte Garp.
»Ja, es ist ein komplettes
Zimmer«, sagte Jenny. »Sie [175] haben alle Möbel des Schriftstellers genommen und
womöglich auch die Wände und den Fußboden. Ich weiß nicht, wie sie es gemacht
haben.«
»Und ich weiß nicht, warum sie es gemacht haben«, sagte Garp. »Das ganze Zimmer
ist in dem Museum?«
»Ja, ich glaube, es war ein
Schlafzimmer«, sagte Jenny, »aber es war auch das Zimmer, wo der Schriftsteller
tatsächlich schrieb. «
Garp verdrehte die Augen. Er fand
es obszön. Ob auch die Zahnbürste des Schriftstellers dort sei?, wollte er
wissen. Und der Nachttopf?
Es war ein ganz gewöhnliches
Zimmer, aber das Bett wirkte zu klein – wie ein Kinderbett. Der Schreibtisch
wirkte auch klein. Nicht das Bett oder der Tisch eines umgänglichen
Schriftstellers, dachte Garp. Das Holz war dunkel; alles sah sehr zerbrechlich
aus. Garp fand, dass seine Mutter ein besseres Zimmer zum Schreiben hatte. Der
Schriftsteller, dessen Zimmer in dem Museum der Stadt Wien ausgestellt war,
hieß Franz Grillparzer; Garp hatte noch nie etwas von ihm gehört.
Franz Grillparzer starb 1872: Er
war ein österreichischer Dichter und Dramatiker, von dem nur sehr wenige Leute
außerhalb des deutschen Sprachraums je etwas gehört hatten. Er ist einer jener
Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, die das 19. Jahrhundert nicht mit
gleichbleibender Beliebtheit überdauerten, und Garp sollte später behaupten,
dass Grillparzer es auch nicht verdient hätte, das 19. Jahrhundert zu
überdauern. Garp interessierte sich nicht für Theaterstücke und Gedichte, aber
er ging in die Bibliothek und las, was als Grillparzers Meisterwerk angesehen
wird, die lange [176] Erzählung Der arme Spielmann .
Vielleicht, dachte Garp, reichten seine drei Jahre Schuldeutsch nicht aus, um
die Erzählung würdigen zu können; auf Deutsch fand er sie entsetzlich. Dann
entdeckte er in einem Antiquariat in der Habsburgergasse eine englische
Übersetzung der Geschichte und fand sie immer noch entsetzlich.
Garp fand Grillparzers berühmte
Geschichte ein schauerliches Melodram; er fand auch, dass sie einfältig erzählt
und schlicht sentimental war. Sie erinnerte ihn entfernt an russische
Erzählungen aus dem 19. Jahrhundert, in denen die Hauptfigur oft ein
unentschlossener Zauderer und ein Versager in allen Bereichen des praktischen
Lebens ist; aber Dostojewskij brachte einen nach Garps Ansicht wenigstens dazu,
sich für einen solchen Unglückswurm zu interessieren; Grillparzer dagegen
langweilte ihn mit rührseligen Nebensächlichkeiten.
In demselben Antiquariat kaufte
Garp eine englische Übersetzung der Selbstbetrachtungen von Mark Aurel; er hatte Mark Aurel im Lateinkurs an der Steering School lesen
müssen, aber er hatte ihn noch nie auf Englisch gelesen. Er kaufte das Buch,
weil der Antiquar ihm erzählte, Mark Aurel sei in Wien gestorben.
»Im Leben eines Menschen«,
schrieb Mark Aurel, »ist seine Zeit nur ein Augenblick, sein Sein ein
unaufhörlicher Fluss, seine Wahrnehmung ein schwaches Binsenlicht, sein Körper
eine Beute der Würmer, seine Seele ein ruheloser Strudel, sein Schicksal
dunkel, sein Ruhm ungewiss. Kurz, alles Körperliche ist wie eilendes Wasser,
alles Seelische wie Träume und Dämpfe.« Garp hatte das Gefühl, dass Mark Aurel
in Wien gelebt haben müsste, als er das schrieb.
[177] Das Thema von Mark Aurels trostlosen
Betrachtungen war gewiss das Thema eines großen Teils
aller ernsthaften Literatur, dachte Garp; der Unterschied zwischen Grillparzer
und Dostojewskij war nicht eine Frage des Stoffs. Der Unterschied, schloss
Garp, lag in der Intelligenz und
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