Gauß: Eine Biographie (German Edition)
haben, er werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um Carl einen Freiplatz am Gymnasium zu verschaffen, sodass er, Gebhard Gauß, dessen Rotwurst übrigens ganz vorzüglich und zweifellos die beste im ganzen Viertel, ach was, in der ganzen Stadt sei, sich keine Sorgen um das Schulgeld machen müsse. Endlich willigt der Vater ein.
Dass Bartels’ zielstrebiger mathematischer Ehrgeiz hier, in diesem doch sehr eingeschränkten täglichen Bewegungsspielraum zwischen den Koordinatenpunkten Katharinenschularbeitsplatz und Wendengrabenvaterhaus, zufällig auf die spielerische Intelligenz eines kindlichen Zahlenjongleurs trifft, den es nach anspruchsvollerem mathematischen Wissen verlangt, können beide nur als glückliches Zusammentreffen günstiger Umstände erlebt haben. Die tägliche Begegnung in der Schulstube lässt Bartels längst ahnen, welches Potenzial in den weiten Räumen hinter Carls Stirn verborgen liegt. Er kann sich – im wahrsten Sinne des Wortes – ausrechnen, dass dieses imponierende geistige Kraftfeld aus Scharfsinn, Spielfreude und Beharrlichkeit, sobald es mit Neuem konfrontiert sein wird, auch ihm, dem acht Jahre Älteren und Erfahreneren, noch nützliche Einsichten bescheren kann. Und die Augen des kleinen Wunderkindes werden geleuchtet haben, als Bartels ihm erstmals seinen buchstäblich vom Munde abgesparten und dem Schlaf geschuldeten Mathematikbücherschatz zeigt.
Carl selbst besitzt bereits 1785, im zarten Alter von 8 Jahren * , das umfangreiche Werk Arithmetica theoretico-practica des Mathematikers Christian Stephan Remer. Dieses 1737 erschienene Buch vermittelt insbesondere das «Rechnen mit Vorteil» – Lösungswege, die sich im Alltag des Bäckers, Marktbeschickers und Fleischhauers bewährt haben und schneller zum Ziel führen als der umständliche und unflexible Umgang mit den in der Volksschule gelehrten Grundrechnungsarten.
Ein Jahr vor Beginn des Büttner’schen Rechenunterrichts macht sich also der Zweitklässler bereits auf eigene Faust mit den elementaren Kenntnissen kaufmännischen Rechnens vertraut. Man muss wohl annehmen, dass Carl das Buch geschenkt bekommen hat. Zu diesem Zeitpunkt seiner sozialen Entwicklung sind sein Patenonkel Georg Carl Ritter und der Bruder seiner Mutter, Friedrich Benze aus Velpke, die plausibelsten Kandidaten für die Beschaffung der Lunte, die zur Initialzündung lebenslangen kritischen Denkens und autodidaktischen Lernens führt.
Was kann dieses über 700 Seiten starke Werk dem Zweitklässler bieten? «Liebes Büchlein» steht in Kinderschrift auf dem Vorsatzpapier. Die Spuren der Abnutzung sind unübersehbar. Überall am Rand und zwischen den Zeilen hat der Wissensdurstige in sparsamer, penibler Handschrift gewissenhaft seine Übungsaufgaben eingetragen und sich Notizen gemacht [Sle: 30]. Wenn er also ein halbes Jahr später während der legendären Mathematikstunde in der Katharinenschule vorführen wird, dass er selbständig die Summenformel für Zahlenreihen entdeckt hat, geht er nicht völlig unvorbereitet an die Büttner’sche Additionsaufgabe heran.
Christian Stephan Remers Demonstrativische Anweisung zur Rechenkunst ist vermutlich Carl Gauß’ erstes Buch, das er mit kindlicher Leidenschaft und Hingabe verschlingt. Ziemlich früh lernt er, mit Hilfslinien auf Papier und Tafel 25-stellige Zahlen – Quadrillionen – zu bewältigen. Und so ist es denn auch nicht ganz unwahrscheinlich, dass er schon im ersten Kapitel auf einen Abschnitt trifft, der ihn auf den Weg zum Gesetz für die Summierung einer Zahlenreihe gelenkt haben könnte. Nach der Remer’schen Definition: «Numeriren heisset zu teutsch: zählen, das ist dem Wort=Verstande nach: anzudeuten, wie viel Sachen von gleicher Art beysammen sind», taucht unvermittelt eine spielerische Note auf, die der junge Carl bestimmt nicht übersehen haben wird. Es handelt sich um eine simple Verschlüsselungsmethode, mit der Zahlen, die der Geheimhaltung bedürfen, durch Buchstaben ersetzt werden. Dafür möge man sich, schlägt Remer vor, ein Wort mit zehn Buchstaben suchen und jedem der Buchstaben in auf- oder absteigender Folge eine Ziffer zuordnen. Als vorbildlicher Lokalpatriot, der an zwei Rechenschulen in Braunschweig unterrichtet hat, nennt er folgendes Schlüsselwort [Rem: 48]:
Wolle man etwa 902 Taler «anschreiben», könne man dies nun entweder mit I-G-R oder R-B-I tun. Nach 48 Seiten Belehrungen und Übungsaufgaben ist dies das erste auflockernde Element und wird seine
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