Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Volksgerichts kommt er zu sprechen, auch auf die Exzesse der Leichenschändung nach vollzogener Hinrichtung. Die Urteile findet er gerecht, die Grausamkeiten des Räderns und die Schändungen erbärmlich. Später gesteht ihm Wilhelm von Humboldt, er könne inzwischen in Berlin keinen unschuldigen Laternenpfahl mehr ansehen, ohne an die Lampen im revolutionären Paris und deren Funktion als Galgenbaum zurückdenken zu müssen. Die «Briefe aus Paris» werden zuerst im Braunschweigischen Journal veröffentlicht, bevor sie als Buch erscheinen, das vier Auflagen erlebt. Während also Campe und Heusinger die in Paris vermeintlich erkämpfte Gleichheit aller Menschen enthusiastisch in Leitartikeln feiern, dringt der zwölfjährige Carl Gauß seinerseits zu den Grundlagen der algebraischen Gleichheit vor.
Diese Kunst, aus bekannten Größen unbekannte Werte zu berechnen, ist viertausend Jahre alt und hat sich in der Praxis bewährt. Die Ursprünge liegen in Mesopotamien. Inder, Araber und Griechen entwickelten jeweils eigene Vorstellungen über das Rechnen mit einer oder mehreren Unbekannten und beeinflussten auch die Gelehrten in den Klosterschulen Karls des Großen. Meistens geht es um existenzielle Verhältnisse zwischen Gewinn und Verlust, Besitzstand und Lebenskosten. Mal muss die Nachlassaufteilung eines gestorbenen ägyptischen Kaufmanns nach kompliziertem islamischen Erbrecht geregelt werden. Oder es soll die zweckfreie Lust am Rätseln mit der Frage befriedigt werden, wie lange eine Schnecke braucht, um vom Grund eines Brunnens ganz nach oben zu kriechen, wenn sie tagsüber eine bestimmte Strecke vorankommt und nachts einen Teil des Weges wieder hinunterrutscht. Stets lassen sich solche und unzählige weitere Alltagsprobleme auf Gleichungen mit einer oder mehreren Unbekannten zurückführen.
Am Collegium Carolinum hat Martin Bartels indes seinen jungen Freund nicht vergessen. Im Frühjahr 1791 lenkt er die Aufmerksamkeit seines Mathematik- und Physikprofessors Eberhard August Wilhelm Zimmermann auf das außergewöhnliche Talent des Vierzehnjährigen. Zimmermann ist ein einflussreicher, überregional bekannter Wissenschaftler, der bereits seit 25 Jahren am Carolinum lehrt und 1784 im Auftrag des Herzogs den spektakulären ersten Aufstieg eines unbemannten Heißluftballons in Deutschland organisiert hat – nicht weit vom Wendengraben entfernt. Gewiss ist ihm auch die Geschichte über seinen Kollegen am Katharineum, Professor Hellwig, zugetragen worden, der Carls erste schriftliche Mathematikarbeit mit dem Kommentar zurückgegeben haben soll, «es sei überflüssig und kaum zu verlangen, dass ein solcher Mathematikus in seinen Stunden noch erscheine» [Hän: 23]. Während Carls Schulkameraden noch mit kindlicher Leidenschaft ihren Spielen nachgehen, durchdringt er mit seinem außergewöhnlichen Scharfsinn die Algebrabücher und deckt Unzulänglichkeiten und Widersprüche in mancher Beweisführung gestandener Lehrbuchautoren auf.
Zimmermann bestellt Carl zu einem Gespräch ins Collegium und ist beeindruckt. Er legt ihm eine Aufgabe aus der Infinitesimalrechnung vor und sieht zu, wie er sich «die Formel selbst schuf» [Zim 1 : 66]. Allein mit dem Umfang seines passiven Grundlagenwissens lässt Carl jeden Studenten blass aussehen. Ausschlaggebend aber ist das enorme kreative Potenzial, das ihn zu Genieleistungen befähigt und ihn von einem lediglich hochbegabten Schüler, der eine schnelle Auffassungsgabe besitzt, unterscheidet. Zimmermann erkennt sofort, dass dieser scheue Junge neu Erworbenes kritisch hinterfragt und mit Altbekanntem verknüpft. Hier experimentiert ein gewandter und flexibler Geist in seinen einsamen Studien spielerisch und streng zugleich in ganz neue Richtungen. Seine schöpferische Kraft ist einzigartig. Carls Fürsprecher Bartels hat nicht zu viel versprochen. Wahrscheinlich ist Carl viel zu schüchtern, um dem berühmten Professor von seiner gerade entflammten Leidenschaft für ein neues Gebiet zu erzählen. Aber vielleicht löst ihm ja die wohlwollende Haltung Zimmermanns die Zunge. Hier kann er mit einem erfahrenen Fachmann reden und muss sich nicht für seine vermeintlich brotlose Kunst vor verständnislos dreinschauenden Nordstadtnachbarn rechtfertigen. So könnte Carl ihm erzählt haben, wie er seit neuestem darauf gekommen ist, arithmetische und geometrische Größen miteinander zu verbinden und durch ein «zierliches» Verfahren einander anzunähern. Wie er sich außerdem vorstelle,
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