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Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauß: Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hubert Mania
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Wirkung auf den Achtjährigen nicht verfehlt haben. Man muss kein Mathematikgenie sein, um zu erkennen, dass sich beim vertikalen Lesen der beiden Zahlenreihen stets die Summe 11 ergibt – sieht man einmal von der ersten und letzten Kolumne ab, in denen die Null als Spielverderberin lauert. Für die Verschlüsselungstechnik selbst spielt diese Summensymmetrie überhaupt keine Rolle. Sie ist nur ein sofort ins Auge springendes Nebenprodukt der graphischen Darstellung. Aber wenn wir uns an Leonhard Eulers Anweisungen zur Ermittlung der Summe einer Zahlenreihe [Eul: 264] erinnern, dann gibt er den Rat, die Reihe hinzuschreiben und eine Zeile darunter die gleiche Reihe rückwärts zu notieren. Auch hier ergeben sich dann beim vertikalen Lesen lauter gleich große Zwischensummen, die nach zwei einfachen Schritten zur gesuchten Gesamtsumme zusammengefasst werden können.
    Wenn Carl das Buch also am 16. Dezember 1785 geschenkt bekommt, ist er etwa ein halbes Jahr später, nämlich zum Zeitpunkt seines ersten öffentlichen Auftritts als Wunderkind in der Katharinenschulstube, zweifellos über die Seite 48 hinausgelangt und hat mit dem «Braunschweig»-Schlüssel bestimmt schon seine eigenen Spielchen veranstaltet. Dem zahlenversessenen Jungen wird sich bei vertikalem Lesen der Effekt der stets gleichen Summen unauslöschlich eingeprägt haben. Und so klingt es nicht unwahrscheinlich, dass Carl die reine Rezeptanweisung der vorwärts- und rückwärtsgeschriebenen Zahlenreihe aus dem «Braunschweig»-Verschlüsselungsverfahren herausgefiltert und angewendet haben könnte, um die Büttner’sche Aufgabe zu lösen, alle Zahlen zwischen 1 und 100 zusammenzuzählen. Es wäre der geradezu klassische Fall eines kreativen Aktes.

    Das Angebot von Martin Bartels kommt für den talentierten Jungen zum richtigen Zeitpunkt. Beide werden im Herbst 1788, also in gut zwei Jahren, ihren Traum von der höheren Bildung verwirklichen: Der Siebzehnjährige wird sich am Collegium Carolinum, an der Braunschweiger Hochschule, einschreiben, während Carl sich noch genauso lange gedulden muss, bis er aufs Gymnasium gehen darf. Remers kaufmännische Tricks und praktische Anleitungen zur sauberen Gestaltung langer Multiplikations- und Divisionsrechnungen hat er inzwischen längst verinnerlicht. Nun ist er reif für die höheren Weihen. Und der wie ein großer Bruder rührend um ihn bemühte Bartels kennt die nächsten Stufen für mathematische Autodidakten aus eigener Anschauung und Erfahrung nur zu gut. Der bildungshungrige Zinngießersohn hat versuchsweise bereits Vorlesungen am Carolinum besucht und weiß genau, welche Lektüre für die Mathematikkurse an der Hochschule erforderlich ist. Mit eiserner Disziplin und außerordentlichem Fleiß schließt er seine Wissenslücken und lässt den begeisterten Neunjährigen daran teilhaben. Vor allem aber öffnet er ihm dabei die Schatztruhe seiner mathematischen Lehrbücher – ein außerordentlicher Glücksfall für Carl Friedrich, der gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Dass Martin zusätzlich Latein, Griechisch und Italienisch büffelt, bleibt ebenfalls nicht ohne Wirkung auf Carl.
    Zunächst aber lernt er ein neues Spiel kennen. Hatte er sich bisher ausschließlich im Zahlenrechnen geübt, so pflegt er plötzlich auch den mathematischen Umgang mit Buchstaben, die in vielfältigen Beziehungen zu Zahlen stehen. Mit der Symbolsprache der Algebra lassen sich die abstrakten Strukturen der Grundrechenarten unabhängig vom Wert der Zahlen in allgemeiner Form darstellen, denn «a» und «b» sind zunächst einmal einfach nur wertfreie, unterschiedliche Einheiten. Als Nächstes lernt Carl die Differenzial- und Integralrechnung kennen. Mit seinem einzigartigen Kombinationsvermögen und seiner Vorstellungskraft hat der englische Naturwissenschaftler Isaac Newton in den 1660er Jahren erstmals in der Geschichte der Mathematik das Repertoire des bloßen Zählens und Messens unbewegter Objekte um exakte Vorschriften zur Berechnung allmählich zunehmender oder dahinschwindender Größen und dynamischer Prozesse erweitert. Seit dieser historischen Großtat ist die Mathematik der Bewegung und damit dem Leben selbst auf der Spur. Die Differenzialrechnung kalkuliert die kontinuierlich sich verändernden Intervalle von Zeit und Raum bei Bewegungen, die miteinander in Beziehung stehen. Sie ist ein Instrumentarium zur Berechnung des Wachstums von Pflanzen, zur Temperaturentwicklung in Dampfmaschinen oder zur

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