GB84: Roman (German Edition)
ich. Na, der Streik ist vorbei. Hast du nicht gehört? Ich schüttelte den Kopf. Du machst Witze. Wie könnten das denn gute Neuigkeiten sein? Tim sah, dass ich sauer war. Na, sagte er, ist doch gut, wieder zur Arbeit zu können. Mehr meinte ich nicht – Ich schüttelte den Kopf und drehte mich um. Tag 363 – Noch immer nicht vorbei. Heute gibt es noch ein paar Streikpostenschichten – mehr als sonst – Macht den Eindruck, als seien noch ein paar Rechnungen zu begleichen – Hitziges Gerede. Aber am Ende führt das alles zu nichts – Heute will sich keiner verhaften lassen. Nein, danke – Das wäre ja so wie bei den armen Kerlen, die sich am Tag des Waffenstillstands noch erschießen lassen. Heute im Bau, morgen gefeuert – nein, danke. Nicht nach zwölf verdammten Monaten – Am Morgen gibt es ein weiteres Treffen, das dritte oder vierte in einer Woche – dazu jede Menge Verbitterung und Wut über die Ereignisse bei der gestrigen Sitzung des Nationalen Exekutivkomitees. Erst langsam wird einem die Neuigkeit bewusst – Gemischte Gefühle. Erhitzte Gemüter – Der Bezirk Yorkshire möchte, dass alle geschlossen zur Zeche marschieren – mit wehendem Banner und erhobenen Häuptern. Mit Blaskapelle und allem. Und was ist mit denen, die gefeuert wurden?, fragt Keith. Marschieren die auch mit rein? – Das Treffen verwandelt sich in ein Irrenhaus. Das reinste Chaos – Die Kumpel scheißen sich jetzt in die Hosen, weil sie nicht wissen, ob sie wieder übernommen werden oder nicht – Mal kriegen sie es so zu hören, mal so. Dann wieder anders – Entsetzlich. Grausam – die Angst in all den Gesichtern, voller Niederlage und Verzweiflung – Gesichter, wie man sie auf den Streikposten gesehen hat. Wie sie den Polizeipferden und Hunden getrotzt haben – Ihren Visieren. Ihren Schilden – Gesichter, die Knüppel und Stiefel abgekriegt haben. Zerschlagen und zerschunden – Gesichter, die mit ansahen, wie Frauen und Kinder ohne alles auskommen mussten. Gesichter, die zwölf verdammte Monate lang gelitten haben – Gesichter, die nun verloren und furchtsam wirken. Voller Furcht vor der Zukunft – einer Zukunft, die sich keiner von uns leisten kann. Eine Menge Jungs fangen heute wieder mit dem Trinken an – verbringen die Nacht auf Fliesen – Wir verbraten unser letztes Geld und beten, dass wir bald wieder Lohn kriegen – Wach auf! Ich liege im Mantel auf Petes Sofa. Wach auf! Mein Mund schmeckt nach Erde und Scheiße – Wenigstens habe ich nichts geträumt. Die Nächte sind nun vorbei – Tag 364 . Mary hat uns Frühstück gemacht und auch was eingepackt – Heute ist es wie am ersten Frühlingstag. Wunderschön – Ich folge Pete zum Treffen im Welfare Club. Halb neun. Fast das ganze Dorf ist auf der Straße – jede Menge Aufregung. Die Kumpel, die gefeuert worden sind, schieben das Gerüst mit dem Banner vor sich her – vorneweg Pete und die anderen drei Ortsverbandsoffiziellen. Alle anderen folgen dahinter. Ich stehe da und denke, fang ja nicht an zu weinen, halte nicht nach Cath Ausschau. Nicht weinen und nicht – Doch dann blicke ich mich um und sehe Big Chris mit einem Taschentuch. Weichherziger Mistkerl – Dann gehen wir los, und ich drehe mich um. Ich kann nicht fassen, wie viele wir sind – über die Hälfte streikt noch immer. Mindestens – Das macht mich stolz. Aber auch traurig – wie wir alle hier stehen. Gemeinsam – Schulter an Schulter. Vereint – Wir marschieren als Einheit. Nur, dass es jetzt zu spät ist – Pete und die anderen kommen ans Tor und bitten um eine Schweigeminute für die Toten dieses Streiks. Da sehe ich sie – nicht nur die achthundert, die mit mir in der Zechenzufahrt stehen, die Unterstützungsgruppen und all jene, die uns geholfen haben – nicht nur die. Sondern auch all die anderen – Weit unten. Unter meinen Füßen – Sie flüstern. Sie hallen wider – Sie stöhnen. Sie schreien – unter den Feldern. Unter den Hügeln – den Straßen und Motorways – den leeren Dörfern und dreckigen Städten – den aufgegebenen Textilfabriken und verstummten Werkshallen – den toten Bäumen und kaputten Zäunen – den stinkenden Flüssen und dem schmutzigen Himmel – dem schmutzig blauen Märzhimmel, der uns nun bespuckt – Die Toten. Die Gewerkschaft der Toten – Von Hartley bis Harworth. Von Senghenydd bis Saltley – Von Oaks bis Orgreave. Von Lofthouse bis London – die Toten, die uns von weit her bis hierhin getragen haben, durch die Dörfer der Verdammten,
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