Gebieter der Dunkelheit
schon immer. Darf ich?«
Naomis Augen wurden feucht. »Ich brauche Zeit«, sagte sie mit belegter Stimme, riss sich los und rannte davon.
25
Ziellos lief Naomi durch die Weinreben. Tränen glänzten auf ihren Wangen, sie machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen. Das Moleskin stieß immer wieder gegen ihre Beine. Es nervte sie, aber sie hielt es nicht fest, weil sie mit den Armen ruderte, um schneller vorwärtszukommen.
Erst als plötzlich der Racoon Creek vor ihr auftauchte, hielt sie an. Sie stützte sich auf ihren Oberschenkeln ab und rang nach Luft. Schweiß perlte von ihrer Stirn. Keuchend ließ sie sich am Ufer auf ihre Knie ins Gras fallen, neigte sich vor und schaufelte sich kühles Wasser ins Gesicht. Langsam kam sie wieder zu Atem. Sie ließ ihren Blick über den Fluss schweifen und saugte die Idylle in sich auf. Hier war die Welt noch in Ordnung, in ihrem Inneren nicht mehr. Dann lehnte sie sich gegen die Silberweide, unter der sie kniete, und schloss für einen Moment ihre Augen.
Naomi horchte in sich hinein. Die Neuigkeit war wie ein Tornado durch sie hindurchgefegt – gewaltig und laut tosend –, aber er war weitergezogen und hatte nichts in ihrem Inneren zerstört. Woran lag das?
Noch immer konnte sie Bills Berührungen spüren und seinen ureigenen Duft nach Mann, frischer Luft, Sommersonne und Natur riechen. Er war ihr Vater, Himmel noch mal, ihr Dad! Eigentlich war er das schon immer gewesen. Er hatte sich seit ihrer Kindheit bemüht, Tony zu vertreten. Doch das war etwas anderes gewesen. Er war ein Vaterersatz gewesen, aber eben nur ein Ersatz, ein kleiner, aber feiner Unterschied.
Naomi hatte sich stets schlecht gefühlt, weil sich ihre Sehnsucht nach Anthony Coffin in Grenzen gehalten hatte. Aber wie konnte man jemanden vermissen, den man nicht kannte? Außerdem hatte sich ihre Mom derart krampfhaft bemüht, die Erinnerung an Tony aufrechtzuerhalten, dass Naomi sich regelrecht bedrängt gefühlt hatte. Cats Bemühungen hatten das Gegenteil bei ihr bewirkt. Während ihre Mom sie zwang, an jedem von Tonys Ehrentagen Kuchen im Hafen bei Macy’s Homemade Bakery essen zu gehen, dabei Fotos anzuschauen, die vor Naomis Geburt aufgenommen worden waren, und alten Geschichten zu lauschen, die nichts mit ihr zu tun hatten, fragte sich Naomi insgeheim, wieso man die Geburtstage von Toten feierte. Als Kind hatte sie sehnsüchtig zu den Jungen und Mädchen geschaut, die auf dem berühmten Pier 39 Fangen spielten, und später als Teenager zu den Verliebten, die Hand in Hand über den Fisherman’s Wharf spazierten, einer Werft, in der alte Lagerhallen zu Cafés, Restaurants und Kneipen umgebaut worden waren. Naomi hatte nicht in Erinnerungen schwelgen wollen, die nicht ihre eigenen waren, sondern sie hatte selbst etwas erleben wollen!
Rückblickend gab sie zu, dass sie deshalb so früh von zu Hause ausgezogen war. Cheng hatte ihr den Schlüssel zu seiner Wohnung angeboten, und sie hatte zugegriffen, ohne ein zweites Mal darüber nachzudenken. Zu dem Zeitpunkt war sie gerade neunzehn Jahre alt geworden und hatte unter den Geschenken wie immer auch eins von Tony gefunden, das selbstverständlich ihre Mom in seinem Namen gekauft hatte.
Welch ein falsches Spiel, dachte Naomi, schnaubte verächtlich und warf einen Stein ins Wasser. Aber sie wusste ja, dass ihre Mutter nur gute Absichten gehabt hatte. Sie hatte gewollt, dass Naomi in einer Art intakter Familie aufwuchs oder zumindest in Gedanken daran. Dabei war die Scharade unnötig gewesen. Catherine war eine gute Mutter. Naomis Kindheit war glücklich gewesen. Und es hatte sogar einen Mann in ihrem Leben gegeben, der ihr die männliche Sicht auf die Dinge vermittelt hatte – William Brookstone. Während Anthony trotz aller Bemühungen ihrer Mutter ein Schatten blieb, war Bill ein Mensch zum Anfassen, eine Bezugsperson, eine Vertrauensperson – real.
Naomi bemerkte, dass sie aufgehört hatte zu weinen. Ungeniert zog sie ihre Nase hoch und schniefte. Bill war immer ein Teil ihres Lebens gewesen. Er hatte ihr das Randall Museum mit seinem Streichelzoo gezeigt, gemeinsam mit ihr naturwissenschaftliche Experimente im Kinderlabor des Exploratoriums durchgeführt und sie ins Wachsmuseum eingeladen, um von ihr Fotos mit allen Berühmtheiten zu machen. Diese Bilder besaß Naomi noch heute. Als sie älter wurde, flüchtete Naomi öfters zu ihm ins Napa Valley und schüttete ihm ihr Herz aus. Sie vertraute ihm, sie fühlte sich ihm nah, und trotz seiner
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