Gebieter der Dunkelheit
Vorwürfe gemacht, dass sie ihn damals hatte gehen lassen, und seitdem hatte sie Angst, auch Naomi zu verlieren, weshalb ihr Beschützerinstinkt erdrückend war. Obwohl sie Cheng zu konservativ fand, sah sie ihre Tochter bei ihm in guten, soliden Händen.
Der einzige Rückzugsort, an dem man Naomi in Ruhe ihren Gedanken nachgehen lassen würde, war das Weingut ihrer Tante Carol und ihres Onkels William Brookstone in Napa Valley. Sie würde zwar lieber in San Francisco bleiben, weil Frisco so lebendig und voller Geheimnisse, Feuer und Tollheiten war und sie sich nach Lebendigkeit sehnte. Aber San Francisco war Cheng, und sie musste weg von ihm.
Schade, dachte Naomi, auf dem Land würden wohl kaum Abenteuer auf sie warten.
1
Sonntag, 1. Juli
Es hatte Streit gegeben. Das war zu erwarten gewesen. Cheng hatte absolut kein Verständnis dafür, dass sie spontan eine Woche Urlaub nehmen wollte. Alles, was für ihn zählte, war, dass sie ihn alleine ließ. Dabei ging es ihm nicht nur um die Arbeit in der Kanzlei, sondern angeblich auch um die einsamen Abende zu Hause. Sollte sie ihm das etwa glauben? Meistens saßen sie ohnehin nur auf der Couch und lasen. Das konnte er auch, wenn sie nicht daheim war.
Er hatte seine Handflächen aneinandergelegt und hatte sie gebeten, zu bleiben, doch Naomis Entscheidung stand fest.
Gegen seinen Willen war Naomi trotzdem einen Tag später gefahren.
Während sie den alten Ford über den Highway 101 in Richtung Golden Gate Bridge lenkte, kämpfte ihr schlechtes Gewissen, das sie zweifelsohne von ihrer Mom geerbt hatte, mit ihrem Kampfgeist. Der Weg über die Oakland Bridge war eigentlich dreißig Minuten kürzer, aber da man nie wusste, ob um Oakland Stau herrschte – an Wochentagen verstopfte der Berufsverkehr die Straßen in und um die Großstadt und am Wochenende Familien, die einen Ausflug machten –, hatte Naomi sich für die längere Strecke entschieden.
Sie hatte Zeit und wenn sie Auto fuhr, konnte sie gut nachdenken.
Eigentlich gehörte das Auto Cheng. Es war kein Problem gewesen, es zu nehmen, denn er hatte ja noch den silbermetallicfarbenen Lincoln, den Firmenwagen. Auch der Mietvertrag für das Appartement lief auf seinen Namen. Er beglich alle Rechnungen. Naomi kaufte nur hin und wieder auf ihre Kosten ein und tankte.
Selbst das war nicht ganz richtig, denn er zahlte schließlich ihr Gehalt. Er arbeitete erfolgreich als Genealoge. Seine Kanzlei für Familienforschung lief hervorragend. Naomi half ihm bei der weltweiten Erbenermittlung, beantragte Erbscheine, beschaffte Urkunden, half bei der Aufklärung von Vermögenswerten, während er seine Kunden in Fragen bezüglich des Erbrechts betreute. Seine Fälle bekam er meistens vom Gericht zugewiesen, er beriet aber auch einige private Kunden.
Cheng war das Gesicht von Pinpoint Precision, Naomi machte die Fleißarbeit hinter den Kulissen.
Sie war sich bewusst, wie sehr sie ihr Leben auf Cheng ausgerichtet hatte, aber ihr hatte diese Abhängigkeit nie etwas ausgemacht. Alles hing an ihm: ihre Liebe und ihre Existenz – ihre private und berufliche Perspektive. Sollte sie um ihre Beziehung zu ihm kämpfen oder die Reißleine ziehen?
Der Engel auf ihrer Schulter ermahnte sie, nicht gleich das Handtuch zu werfen – er habe es nicht so gemeint, als er sagte, sie sei nur seine Freundin, sie interpretiere zu viel in dieses Wort hinein – und erinnerte sie daran, dass sie beide Michael Bublé Fans waren, Jakobsmuschel-Tartar ihr Lieblingsgericht war und mehr Geld für Bücher als für andere Dinge ausgaben.
Das Teufelchen dagegen fragte sie, wieso sie ihr Leben mit diesem unverschämten Kerl vergeudete.
Gleich am Samstagmorgen hatte sie auf dem Weingut angerufen und gefragt, ob sie am nächsten Tag kommen dürfte.
»Selbstverständlich, du bist jederzeit herzlich willkommen«, hatte Onkel William, der von allen Bill genannt wurde, gesagt. Er war ein Schatz! Im Gegensatz zu Cheng hatte er es nicht verlernt, neben dem Geschäft das Leben zu genießen. Sein Bauchansatz und die Lachfalten waren der Beweis.
Nun, da Naomi über die Golden Gate Bridge fuhr, rief sie noch schnell ihre Mom an, um ihr Bescheid zu geben, damit sie sich keine Sorgen machte. Sie lenkte ihren Wagen an San Rafael, Petaluma und Sonoma vorbei und fuhr auf dem Highway 29 nach St. Helena.
Bereits als sie von der Hauptstraße in die Allee, die zum Weingut führte, einbog und von weitem das Schild der Maroon Winery erspähte, löste sich der Knoten in ihrem
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