Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
erklärte er den Müttern seine Hilfe inmitten des Todes im Lager. Jüdische Neugeborene und Kinder hatten so gut wie keine Überlebenschancen. Vermutlich deshalb sind Überlebende wie Uri Chanoch von dieser Geschichte so berührt. Der Vorsitzende der israelischen Vereinigung der ehemaligen Kaufering-Häftlinge spricht heute von «meinen Kindern». Damals wie heute geht es um die Zukunft des jüdischen Volkes. Auch nach 2000 Jahren der Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung und nach dem unvergleichbaren Verbrechen der Shoa sind Antisemitismus und Judenfeindlichkeit nicht überwunden. Sie wirken in der Gegenwart weiter, in Übergriffen auf Mitglieder und Einrichtungen jüdischer Gemeinden in Deutschland und in ganz Europa. Ganz krank mache sie, sagt Miriam Rosenthal, der wieder erstarkende Antisemitismus in Ungarn.
Auch deshalb wünschten Miriam und Eva ein Buch, das ihre Erfahrungen komplexer und tiefergehend darstellen kann, als das ein Film oder eine Ausstellung vermögen. Ihre Geschichte gibt dem Schicksal der Juden im gewalttätigen 20. Jahrhundert ein weiteres Gesicht. Fast wie eine Formel, über die wir nicht mehr nachdenken, benützen wir heute den Begriff Holocaust, sprechen von der abstrakten Zahl von sechs Millionen Opfern. Die Fassungslosigkeit angesichts der Verbrechen darf nicht weggeredet und -geschrieben werden. Es traf Menschen wie Eva und Miriam, die am Anfang ihres Lebens standen, verliebt waren und eine Zukunft vor Augen hatten. Wir haben ihre Geschichte so aufgeschrieben, wie sie sie erlebt und uns erzählt haben, zusätzlich haben wir die historischen Zusammenhänge in Archiven, anhand von Dokumenten und in Zeitzeugengesprächen vier Jahre lang recherchiert sowie auf viele Forschungsergebnisse von Historikern zurückgegriffen, die im Anhang des Buches ausgewiesen sind. Besonders möchten wir Dr. Edith Raim vom Institut für Zeitgeschichte in München, einer Expertin für die Geschichte des Dachauer Außenlager-komplexes Landsberg/Kaufering danken, die das Manuskript fachkundig geprüft hat. Herzlich danken wir auch Dr. h. c. Max Mannheimer. Max Mannheimer hat uns stets ermutigt, hat das Manuskript kritisch geprüft, durch sein unglaubliches Wissen bereichert, und er hat das Nachwort zu diesem Buch geschrieben.
Nicht weniger wichtig war uns eine andere Frage: Wie kann und muss eine Geschichte von Holocaust-Überlebenden erzählt werden? Wir haben uns für eine Form der literarischen Reportage entschieden und in der dritten Person erzählt, ergänzt durch Zitate der Überlebenden. Nach so vielen Jahren war die Erinnerung an manchen Stellen nur fragmentarisch, auch kam es manchmal bei der Vielzahl von Lagern zu Verwechslungen. Durch unsere Recherche haben wir so weit als möglich die Erinnerungslücken geschlossen. Von Menschen, die den Holocaust überlebten, sprechen wir heute gewöhnlich als Zeitzeugen. Aber dieser funktionalistisch anmutende Begriff sagt nichts aus über ihre Individualität, über ihr Leben davor und den beschwerlichen Weg in ein Leben danach. Auch Miriams und Evas Biografie erschöpft sich nicht in den Jahren der nationalsozialistischen Verfolgung. Deshalb berichten wir auch über die Zeit vor der Deportation und nach der Befreiung. Das war ihnen und uns wichtig. Die Geschichte der beiden Frauen hat nur vordergründig ein glückliches Ende gefunden. In Blicken und Worten Miriams und Evas wird der Satz von der Vergangenheit, die nicht vergehen will, bedrückend lebendig – aus der Sicht der beiden Frauen und ihrer Nachkommen. Auch darum ging es uns in diesem Buch.
Eva, Dunajská Streda 1942
D er Altweibersommer 1942 zeigt sich in Dunajská Streda von seiner schönsten Seite. Seit Tagen ist es warm und trocken. In den Gärten biegen sich die Zweige der Apfel- und Pflaumenbäume unter der Last ihrer reifen Früchte. Die Luft ist von ihrem süßen Duft erfüllt. Tagsüber arbeitet Géza Steckler, ein 23-jähriger Handwerker aus einer alteingesessenen jüdischen Familie, in seiner Werkstatt. Abends, wenn die Sonne hinter den weitgestreckten Maisfeldern am Stadtrand verschwindet und die Blätter der Bäume im warmen Wind rascheln, eilt er durch eine Allee in Richtung Synagoge. Im Stadtpark neben dem kalkweißen hohen Gebäude warten schon seine Freunde. Den Platz haben sich junge Männer und Frauen der jüdischen Gemeinde in der Kleinstadt im Süden der heutigen Slowakei, die seit 1938 zu Ungarn gehört und jetzt Dunaszerdahely heißt, als Treffpunkt ausgesucht. Géza und
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