Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
wiedertraf. 1960 wanderten sie nach Brasilien aus. Aus ihrem Sohn Gyuri, heute George, wurde ein Professor. Miriam vergaß nie, dass Bözsi sie in Kaufering gerettet hatte und ihr Baby vier Wochen lang stillte. Während Leslies Hochzeit 1972 war Bözsi als Ehrengast dabei. Die Freundschaft zwischen den beiden dauerte bis Bözsis Tod im Jahr 2003. Sara erging es wie Eva. Ihr Mann überlebte nicht. Sie heiratete wieder, und nach fünf Jahren in verschiedenen DP-Lagern in Deutschland ging sie 1950 mit ihrer neuen Familie – inzwischen hatte sie neben dem kleinen József auch eine Tochter – in die USA. Bözsi besuchte sie dort und erzählte Miriam, dass Saras Sohn ein sehr religiöser Mann geworden ist, der viele Kinder hat und in seiner Gegenwart kein Wort über den Holocaust duldet. Bözsi besuchte auch einmal Dora, die mit ihrer Tochter nach Israel ausgewandert war. Doras Mann war nicht zurückgekehrt, und auch sie heiratete wieder. Ihre Tochter Zsuzsi, die heute Hana heißt, blieb ein Einzelkind. Ihre Mutter erzählte ihr fast nichts von Kaufering, und sie erfuhr auch nie, wo und wann ihr Vater starb. Magda und Ibolya kehrten nach Ungarn zurück. Auch ihre Männer waren ermordet worden, und die beiden Frauen gründeten neue Familien. Von dem Tod ihres kleinen Jungen hat sich Magda nie erholt. Jahrelang weinte sie im Schlaf. Aus ihrer Tochter Judit, einem intelligenten, sensiblen Mädchen, ist eine Lehrerin geworden. Auch mit Ibolya und ihrer Tochter Agnes telefoniert Miriam manchmal. Im Gegensatz zu Magda, die mit ihrer Tochter nie über die Vergangenheit sprechen wollte und erst jetzt, 40 Jahre später, ihre Erinnerungen aufschrieb, weiß Agnes viel über ihren Geburtsort Kaufering. Es ist Mitternacht geworden, und Miriam und Eva sitzen immer noch auf dem Sofa, halten sich an den Händen und können nicht aufhören, sich gegenseitig Fragen zu stellen. Seit diesem Wiedersehen rufen sie sich regelmäßig an.
Miriam Rosenthal und Eva Fleischmannová in Toronto, 1986
Eva mit ihrer Tochter Marika in Dunajská Streda, Slowakei 2007
Miriam mit Enkeln und Urenkeln. Links neben ihr steht ihre Tochter Lilian. Toronto, 2009
Miriam Rosenthal mit ihrem Sohn Leslie, Toronto, Dezember 2009
An einem heißen Augusttag 2010 gehen durch den menschenleeren jüdischen Friedhof in Dunajská Streda zwei Frauen. Eine ist schon weit über achtzig, die andere jünger. Im grellen Sonnenlicht schimmern die Grabsteine weiß. Am anderen Ende des Weges, ganz hinten, liegt ein Grab, auf das Eva Fleischmannová ein paar Steine legt. Vor Kurzem starb ein jüngeres Mitglied ihrer Gemeinde, und weil Eva zu der Zeit im Krankenhaus war, konnte sie nicht zum Begräbnis kommen. Nur noch etwa 50 Juden leben heute in ihrer Stadt, in der Mehrzahl sind es jüngere Leute. Eva ist eine der letzten drei, die von der nationalsozialistischen Verfolgung aus eigener Erfahrung sprechen können. Aber das macht sie ohnehin nie. Einige Meter hinter ihr geht Maria. Wieder einmal bestand ihre Mutter darauf, den langen Weg von zu Hause bis zum Friedhof zu Fuß zu gehen. Dabei tut die Hitze ihrem Herz gar nicht gut. Maria, auf die zu Hause ihre jüngste Enkelin wartet, zuckt resigniert mit den Schultern. «Gegen meine Mutter habe ich keine Chance. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, lässt sie sich davon nicht mehr abbringen.» Das Grab von Lázár Fleischmann liegt nahe beim Eingang. Auf dem Rückweg verharrt Eva ein paar Minuten davor, beugt sich dann hinunter und legt zwei, drei Kieselsteine auf die Betonumfassung. Nur zehn Meter weiter sind auf der Marmorplatte eines großen Grabsteins mehrere Namen eingraviert – darunter der von Géza. Eva schaut nicht einmal hin, das Grab ist ja leer. Sie lächelt, als sie zu ihrer ungeduldig wartenden Tochter geht. Dann hängt sie sich bei Marika ein, wie sie das früher bei Géza auf ihren Spaziergängen durch den Park so gern getan hat. Irgendwie hat er doch sein Versprechen gehalten. Sie blieb nicht allein.
Nachwort von Max Mannheimer
I m Jahr 2008 lernte ich bei der Gedenkfeier zur Befreiung des Konzentrationslagers Dachau am 29. April 1945 eine Frau kennen, die damals diesen Tag als dreieinhalb Monate altes Baby erlebt hatte. Natürlich hat Maria Nováková aus der Slowakei keine bewusste Erinnerung daran, auch nicht an ihren Geburtsort, der schrecklicher nicht hätte sein können. Frau Nováková ist eines von sieben jüdischen Kindern, die im Dachauer KZ-Außenlager Kaufering I im Winter
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