Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
möchte vor Neid, zumindest aber sich um Kopf und Kragen schwätzen. China. Ein Volk von 1,3 Milliarden Menschen. Also: ein Markt von 1,3 MilliardenKäufern. Oder? Nicht nach-, sondern weiterdenken! Hören Sie sich das an: China sei die »heißeste Marketingidee der nächsten 100 Jahre«, finden die Werber von Saatchi & Saatchi. Dem Agenturchef schwebt die »Marke China« vor: »Weisheit, Energie, Mysterium, Vitalität, Spiritualität, Hochintelligenz, Harmonie, Erfindungsgeist, Fleiß. Die Marke ist cool! Da möchte ich dazugehören!« Kann passieren, dass beim Brainstorming schon mal ein Taifun im Hirn wütet.
Das Aneinander-vorbei-Gucken scheint zum Verhältnis zwischen dem Westen und China zu gehören wie das Aneinander-vorbei-Reden. Das ist so, seit Marco Polo uns 1298/99 sein märchenhaftes »Catai« beschrieben hat: ein Reich von Silber und Gold und den wunderlichsten Kreaturen. Es fügt sich, dass es Krämerphantasien waren, die sich zuerst am fernen Land entzündeten. Sie sind seither nicht mehr erloschen. Es passt auch der schwärmerische Überschwang. Marco Polos Buch, urteilt Jonathan Spence, ein Star der Chinawissenschaften, sei eine Mischung aus »Fakten, sich als Statistik tarnender Zufallsinformation, Übertreibung, Irreführung, leichtgläubiger Übernahme unbelegter Geschichten und einer Portion schlichter Erfindung«. Es ist also Modell für Chinaanalysen bis in unsere Zeit. »Die Wirkung von China«, meint Spence lakonisch, »hat meist nur wenig oder gar nichts zu tun mit der Nüchternheit oder Präzision einer tatsächlichen Erfahrung.« Auch die Philosophen machten da selten eine Ausnahme. »Wer hätte einst geglaubt, dass es auf dem Erdkreis ein Volk gibt, das uns... in den Regeln eines noch kultivierteren Lebens übertrifft?«, schrieb Gottfried Wilhelm Leibniz 1697: »Es ist nämlich mit Worten nicht zu beschreiben, wie sinnreich bei den Chinesen – über die Gesetze anderer Völker hinaus – alles angelegt ist auf den öffentlichen Frieden hin und auf die Ordnung des Zusammenlebens der Menschen, damit sie sich selbst so wenig Unannehmlichkeiten wie möglich verursachen.« Eigentlich sollten die Chinesen uns Missionare schicken, schlug Leibniz vor. Er war nie in China.Gerade deshalb konnte der Philosoph sich sein eigenes China schaffen, einen Gegenentwurf zu den Makeln seiner Zeit. »Ein weißes Blatt Papier, auf das sich die schönsten Zeichen malen lassen« – so hat Mao Zedong China einmal beschrieben. Der Westen malte stets eifrig. China unter den Qing-Kaisern? Ein weiser Philosophenstaat. China unter Mao? Heimstatt der wahren Revolution. China jetzt? Hunger, wo wir satt sind. Tatendurst, wo wir erstarren. Prickelnde Rohheit, wo wir in Gemütlichkeit untergehen. »Eine brandneue Form des Kapitalismus. Das Beste, was den Konsumenten jemals passiert ist.« (Der Deutsche Freihandelsverein im 19. Jahrhundert über die Textilmanufakturen von Manchester? Nein, Bill Gates über China.)
Ach, die Chinesen. Als Altbundespräsident Walter Scheel Peking besuchte, da fand er dort das Verkehrschaos ganz »wunderbar anzusehen«: »Wie alle mit hoher Intelligenz und rasanter Geschwindigkeit bis auf eineinhalb Zentimeter an den Nächsten heranfahren. Dann warten sie höflich, dass der Erste vorbeigeht.« Heilige Einfalt. Man mag Walter Scheel zugute halten, dass er nicht allein ist in seinem rosa Rausch, dass sie es ihm die letzten Jahre alle gleichtaten, die anreisenden Bundeskanzler, Premierminister und Präsidenten. Wie das so ist: Im Nebel der Verliebtheit preist einer auch die schiefe Nase der Geliebten noch als Charaktermerkmal, und wenn sie schielt, dann ist es putzig. Irgendwie passte es, als in all die Chinaturtelei eine Meldung britischer Wissenschaftler platzte, die jetzt auch noch herausgefunden haben wollen, dass die Chinesen einen größeren Teil ihres Gehirns benutzen als wir: ihrer komplexen Sprache und Schrift wegen.
China hat es all denen, die sich gerne täuschen lassen, immer leichtgemacht. Fahren sie nicht Audi, die Pekinger und Schanghaier, trinken sie nicht Cappuccino bei Starbucks, sehen sie nicht MTV, reisen sie nicht nach Bangkok und nach Heidelberg? Man suchte nach Vertrautem und fand Chinesenim Konsumrausch. Sind sie nicht wie wir? Entsteht hier nicht die Mittelklasse, die unweigerlich nach Demokratie verlangen wird? Der Australier David Goodman hat ein Buch über Chinas neue Reiche geschrieben und kommt zu dem ernüchternden Schluss, dass Chinas neue Unternehmer
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