Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
»weniger eine neue Mittelklasse bilden als vielmehr einen zentralen Teil der künftigen herrschenden Klasse«: Nicht die Kapitalisten übernehmen die Partei, sondern die Partei übernimmt die Kapitalisten. Die meisten Städter haben ohnehin den faustischen Pakt akzeptiert, den ihnen die Partei nach Tiananmen 1989 angeboten hat: Mach Geld – und halt den Mund. Mal träumen wir uns China schön. Dann wieder träumen wir es uns ganz furchteinflößend – denn regelmäßig, das ist die Kehrseite, kippt die blinde Euphorie um in ebenso blinden Grusel. Vor Maos blauen Ameisen. Vor der gelben Gefahr. Vor dem großen Strudel, der unsere Arbeitsplätze verschluckt. Aus Verherrlichung wird dann Dämonisierung. »Wehe, wenn die Chinesen kommen«, lässt sich bei uns schon wieder ein Wirtschaftsminister zitieren, »um bei uns den Transrapid zu bauen.«
China verwirrt, China ist ein Land der Widersprüche. Chinesen können gut mit Widersprüchen leben. Wir nicht: Unser Gehirn – weil wir nur einen kleineren Teil in Anspruch nehmen? – scheint darauf nicht eingerichtet. So wählt es sich ein China aus. Sieht, was es sehen, hört, was es hören möchte. »Nicht die Stimme ist es, die der Erzählung gebietet: Es ist das Ohr«, sagt Marco Polo zum Kublai Khan im Roman »Die unsichtbaren Städte« von Italo Calvino. Das ist es, was Sie in der Regel vorgesetzt bekommen: eine Erzählung. Amüsieren, ärgern und erregen Sie sich. Aber verwechseln Sie es nicht mit: China.
Das gilt übrigens auch für dieses Buch.
Da wir schon solche Schwierigkeiten damit haben, China zu erkennen, wie ist es dann bestellt um die Möglichkeit gegenseitigen Verstehens? Wo doch Philosophen und Literatenim Westen mittlerweile bei der deprimierenden Diagnose angelangt scheinen, dass Verständnis selbst zwischen zwei Liebenden illusorisch ist, sodass man sich nicht wundern bräuchte, wenn wir uns alle bei der Hand fassten und gemeinsam die Brücke hinuntersprängen. Wenn der Mensch denn so beschaffen wäre. Ist er aber offenbar nicht. Nennt vielmehr eine Seele sein Eigen, die in einem Aggregatzustand oszilliert ähnlich der »fuzzy logic« der Computerwissenschaft: Schaut großzügig hinweg über das kalt ausgeleuchtete Detail, hat eine Toleranz für Abweichungen. Vertraut der Intuition. Das gilt erst recht für die Seele der Chinesen. Es gibt da eine Geschichte von Zhuangzi, dem daoistischen Philosophen. Zhuangzi und sein Freund Huizi spazieren über die Brücke des Hao-Flusses. »Schau, wie die kleinen Fischlein umherspringen«, sagte Zhuangzi: »Das ist die Freude der Fische.« – »Du bist kein Fisch«, entgegnete der ewige Besserwisser Huizi. »Woher willst du wissen, was den Fischen Freude macht?« Zhuangzi ließ sich davon nicht irritieren. »Du bist nicht ich«, sagte er. »Woher willst du wissen, dass ich nicht weiß, was den Fischen Freude macht?« Die beiden traten der Welt offenbar grundsätzlich verschieden gegenüber. Sollten Sie sich je in einer Situation wiederfinden, in der Philosophen auf Fische treffen oder Chinesen auf Ausländer, haben Sie wahrscheinlich mehr vom Leben, wenn Sie es mit Zhuangzi halten. (Sie könnten jetzt natürlich fragen, woher ich das wissen will, wo ich doch nicht Sie bin, und daraufhin würde ich schweigen.)
Völkerfreundschaft also. Wie mit allen etwas zu groß geratenen Wörtern ist es auch mit diesem so, dass der Mensch es erst in seine Mitte ziehen muss, um es mit Sinn zu füllen. Dabei kann es nicht schaden, ein paar Unterschiede zwischen den Kulturen im Hinterkopf zu behalten. Ich hatte schon erwähnt, dass es heute recht leicht ist, in China in den Genuss des Ehrentitels peng you , »Freund«, zu kommen. Dazu sei mir ein kurzer Exkurs gestattet, denn das vermeintlich harmloseWort peng you ist Quell nicht weniger Missverständnisse zwischen Chinesen und Ausländern, unter Staatsmännern wie auf privater Ebene. In China verkünden viele gern laut, dein Freund zu sein. Dabei macht man rasch die Entdeckung: Je nachdrücklicher sie das tun ( Lao peng you !, »Alter Freund!«), umso weniger sind sie es wahrscheinlich.
Die Pekinger Studentin C. erzählt: »Jedes Mal, wenn ich meine Freundin Y. anrufe, ist ihre erste Frage: ›Was hast du für ein Anliegen?‹« Y. vermutet automatisch, sie werde um einen Gefallen gebeten. »Freunde« sind für viele Chinesen zuerst Teile ihres Netzwerkes. Leute, die man anruft, wenn man Hilfe braucht: im Geschäft, mit den Behörden. Chinesen waren Tausende von Jahren der
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