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Gebrauchsanweisung für die Welt

Gebrauchsanweisung für die Welt

Titel: Gebrauchsanweisung für die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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gerüstet. Nur das Wichtigste fehlt noch, das immer Entscheidende: das Herz, das Beherzte, dieses unsichtbar Wesentliche, das wie eine Peitsche darüber wacht, wachen sollte, dass das Leben nicht im bürgerlichen Trott absäuft, nicht zuschanden kommt im Getriebe rastlos-sinnloser Betriebsamkeit. Das Leben soll glänzen und das Herz soll dafür Sorge tragen, dass der Glanz nicht schwindet.
    Die drei Episoden haben aber noch etwas, wieder einmal, demonstriert. Eine Erfahrung, die jeden Reisenden versöhnt: Immer tauchte zuletzt jemand auf, der Hilfe anbot. Jemand, der sich rühren ließ von der Not eines anderen. Wärme passierte, das anrührende Gefühl, dass andere mitfühlen.
    Ein Nachtrag. Ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber ich brauche Vorbilder. Zeitgenossen, an die ich denke, wenn ich ermatte. Wenn ich davonlaufen und brav sein will. Ich hole mir diese Vorbilder, indem ich mich ganz bewusst an Leute erinnere, die körperlich behindert sind. Nun, kaputt zu sein, ist noch kein Verdienst. Außergewöhnlich wurden diese Männer und Frauen erst, da sie an der Behinderung nicht zerbrachen, sondern wuchsen. Eben über eine Kraft verfügen, eben das Innige, das es mit ihrem Handicap aufnahm. Sie besitzen etwas, vermute ich, an dem wir anderen – wir Unversehrten – nicht teilhaben. Quellen, an die jemand womöglich nur rankommt, weil ihm etwas fehlt.
    Ich habe zwei Dutzend Namen im Kopf, aber ich habe sie nie persönlich getroffen, nur ergriffen von ihnen gelesen. Und meist geheult vor Bewunderung und Fassungslosigkeit. Wie bei der Geschichte von Philippe Croizon, dessen Körper 20 000 Volt durchrasten und der nach drei Monaten Intensivstation als Torso – ohne Arme und Beine – zu seiner Familie zurückkehrte, ja wie ein Übermenschlicher dieses namenlose Desaster annahm. Und sechzehn Jahre später durch den Ärmelkanal schwamm, immer auf der Suche nach Beweisen: dass er lebt! Nicht als Siecher, sondern als Mensch, der sich nicht besiegen lässt. Das Unbändige an ihm, dieses Sich-nicht-bändigen-Lassen, das scheint mir das Packendste an diesem Franzosen.
    Und jetzt noch zwei Tapfere, die ich persönlich kenne: zuerst Tessy, die wilde Tessy. Sie schrieb mir einmal als Leserin und heute ist sie eine Freundin. Seit fünf Jahren, seit einer Operation (Gehirnblutung), sitzt sie im Rollstuhl, halbseitig links gelähmt, unheilbar. Wie ihre nächtlichen Spasmen in den Beinen. Wie ihre Schmerzen (dank Voltaren immerhin erträglich). Damit der Körper nicht weiter verkümmert, kommen viermal die Woche vier Engel zu ihr und behandeln sie, physiotherapeutisch, ergotherapeutisch.
    Um jedoch den Geist beweglich zu halten, liest sie, denkt sie, »beutet« jeden aus, der ihr in die Quere kommt. Und fragt nach seinen Gedanken. Oder lässt sich ins Theater schieben, in Konzerte, ins Kino, in Lesungen. Seltsam viele Leute gibt es, die ihr nah sein wollen, sie abholen, sie raufhieven, sie runterhieven, sie chauffieren. Wenn wir uns sehen, dann rauchen wir einen Joint, erzählen uns schlechte Witze und reden über das Wunder von Literatur und Sprache. Jedes Mal staune ich darüber – und ähnlich geht es wohl all ihren Freunden und Bekannten –, dass man in ihrer Nähe nie den Ergriffenen vorführen, nie die Betroffenheitsvisage aufsetzen muss. Ihr dreckiges Lachen schützt uns vor den falschen Gesten, dem falschen Ton. Tessy will kein Opfer sein, sie will Frau sein und sie will leben.
    Von einem dritten Außergewöhnlichen soll zuletzt die Rede sein, einem Kollegen, einem Schreiber: Andreas Pröve. Als junger Kerl flog er vor dreißig Jahren mitsamt seiner Yamaha aus der Kurve. Und blieb querschnittgelähmt liegen. Viele Monate mussten vergehen, bis er begriffen hatte, dass sein altes Leben nie wieder zurückkehren würde. Und er irgendwann beschloss, als Ex-Tischler auf Rollstuhlfahrer, Weltreisender und Schriftsteller umzusatteln. Als Autor habe ich ihn über sein Buch »Erleuchtung gibt’s im nächsten Leben« kennengelernt. Viele Szenen seines Trips durch Indien sind so hanebüchen und aberwitzig, ja auf so grandios absurde Weise von ihm, dem (praktisch) Beinlosen, gemeistert, dass ich immer wieder mit schallendem Gelächter aufhören musste zu lesen: um den Irrwitz der Situation zu genießen, um mir bildlich vorzustellen, wie anders man mit dem Leben und seinen Tücken umgehen kann. Dass Pröve zudem sein Handwerk beherrscht und mit Sätzen überrascht, die wie Lichterketten durch das Herz des Lesers ziehen,

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