Gebrauchsanweisung für die Welt
ein Arzt vorbei, jedes Mal gab es eine Antibiotika-Spritze in den Hintern. Ohne Wirkung. Ich schien zu schwach, um ein Buch in die Hand zu nehmen (die unverzeihlichste Schwäche) und jede Nacht kam der Keuchhusten. Mit Auswurf, gelbgrün, dazwischen Blut. Neben dem Bett stand ein Kilo Medikamente, die ich seit drei Tagen schluckte. Mit dem Ergebnis, dass ich glühend und feucht wie ein Bettnässer auf dem Leintuch lag.
Ein anderer Arzt klopfte an (der erste hatte mich aufgegeben), ein stiller Herr. Ich sah nun aus wie einer, der sich aufs Abkratzen vorbereitete. Der freundliche Onkel Doktor verpasste die obligate Spritze und empfahl Orangensaft. Indien ist voller Geheimnisse. Ich deutete mit den Augen auf meine Börse. Er sollte sich bedienen und verschwinden. Als er den Schein herausnahm, fielen mir seine schönen Hände auf. Für Sekunden war ich versöhnt. Dann donnerte in der Lobby eine Musikkapelle los, eine Hochzeit begann. Ich wurde sarkastisch und dachte, nur Verheiratetsein müsse grässlicher sein als mein Zustand.
In der vierten Nacht nochmals der Versuch, mich zu entleeren. Da ich die Woche zuvor Opium geraucht hatte, ließen sich die Schließmuskeln nur schwer überreden. Wie ein todmüdes Krokodil glitt ich aus dem Bett, kroch bäuchlings – mit dem rechten Fuß einen Stuhl nachziehend – Richtung Bad. Es gab keine Kloschlüssel, nur ein Loch im Boden. Da ich über keine Kräfte verfügte, mich per Hocke einzurichten, brauchte ich das Sitzmöbel. Als ich endlich auf ihm saß, raste mein Herz vor Anstrengung, wieder der bellende, den Torso schindende Husten. Eine kleine Todesangst meldete sich, plötzlich der Gedanke, ohnmächtig zu werden. Und ich wurde ohnmächtig. Als ich aufwachte, lag ich neben dem Loch, die Oberschenkel voller Urin.
Am nächsten Morgen fuhr ich, bleich und welk wie ein Wiedergänger, ins Krankenhaus. Dort gab es den einen, der sich auskannte. Er nahm mir Blut ab und weissagte, was sich später als richtig herausstellen sollte: Erschöpfung, Dengue-Fieber, zu viel Leben, zu viel Indien.
Die letzte Szene, diesmal in Deutschland. Ich war seit knapp einem Monat von Paris nach Berlin unterwegs, zu Fuß und ohne Geld. Jeden Tag vierzig Kilometer weit. Auf einer solchen Reise bekommt man es mit vielen Problemen zu tun, doch als das brennendste – teuflisch wörtlich zu verstehen – erwiesen sich die Füße. Sie winselten, sie jaulten, jeder Schritt war ein Tritt in ein Flammenmeer. Und irgendwann, an einem sechsten Juli, war das Ende erreicht, die Grenze des Zumutbaren. Nach jedem halben Meter raste ein Elektroschock hinauf ins Hirn. Wie vegetierende Fleischstummel nahm ich meine Zehen wahr, wie in kochendem Wasser schwimmend die Sohlen. Als ich die Stadtgrenze nach Artern (etwa fünfzig Kilometer nördlich von Weimar) überschritt, beschloss ich, das nächste Hospital aufzusuchen, mich auf die Knie zu werfen und tränenreich um eine Morphiumspritze zu flehen. Ich suchte Erlösung, ich war bereit für den Offenbarungseid.
Er nutzte nur bedingt. Die zuständige Ärztin im Krankenhaus besaß kein Wundermittel, ja nicht einmal Tetanus stand im Regal. Aber sie mutete sich die (sicher nicht geruchsfreien) Füße zu, das Blut, den Eiter, den Schmutz, das Gegreine des Patienten. Und reinigte und stillte und wickelte und füllte eine Tüte mit Schmerzmitteln, Verband und Pflaster. Und organisierte acht Wurstbrote und acht Gurken und eine Kanne Tee, zum sofortigen Verzehr. Und schrieb einen Überweisungsschein für den »Verrückten«. Mit dem Kompliment zog ich weiter und stand am nächsten Tag wieder vor einer Frau. Einer Frau mit einer Tetanusspritze. Eine Woche später lief ich in Berlin ein. Wieder mit brüllenden Füßen. Aber am Ziel. Sicher haben sie geweint vor Glück.
Was verbindet die drei Geschichten mit einer Gebrauchsanweisung für die Welt? Alles, na ja, vieles immerhin. Weil einer sich mitunter aufreiben muss. Denn das Aufreibende ist der Eintrittspreis für die Welt. Sie ist eine launische Geliebte und sie will erobert werden. Das Buch heißt ja nicht »Gebrauchsanweisung für drei Wochen Vollpension«, sondern ist für jene geschrieben, die bereit sind, »bar« zu bezahlen. Eben auch mit Schweiß, mit Verzicht, mit dem tief verinnerlichten Wissen, dass einer etwas hergeben muss, um etwas – die Welt! – zu bekommen. Verfügt folglich jemand über einen Kopf mit Hirn und einen folgsamen Leib (der die Befehle des Hirns erledigt), dann ist er nicht schlecht
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