Gebrauchsanweisung für die Welt
macht die Lektüre doppelt erfreulich. Und dass er, zuallerletzt, sich als Mensch, im direkten Kontakt, frei von Dünkel und Pose bewegt, das sichert ihm alle fünf Sterne. Wer ihn liest und sieht, der lernt etwas über den »Gebrauch« der Welt, lernt etwas von einem, der mit seinem halben Körper zu mehr Leben und Neugierde inspiriert als Heerscharen fad-mutloser, ganz und gar intakter Zweibeiner.
Fortbewegungsmittel
Das ist kein schönes Wort, aber zwei schöne Worte befinden sich in dem langen unschönen: »fort« und »Bewegung«. Fort dürfen und sich bewegen können, das sind glorreiche Aussichten. Eine eindeutigere Metapher für das Leben wurde bisher nicht gefunden, klarer kann man es sich nicht vorstellen: Ich bewege mich, also bin ich, also lebe ich. Tote sind bewegungslos, sie sind immer nur tot.
Die Mutter aller Vehikel sind die Beine. Seit dem Zeitpunkt, an dem vor knapp zwei Millionen Jahren der Menschenaffe zum Homo erectus avancierte und das Geradestehen und das Geradegehen lernte. Das muss ein grandioser Fortschritt (fort-schreiten) gewesen sein: nicht mehr auf vier Pfoten durch die Savanne zu streichen, sondern mit aufrechtem Gang zu wandern. Hätte ich damals gelebt, mir wäre sicher aufgefallen, dass Gehen sexy ist. Tausend Mal sexier als Kriechen. Sieht es doch elegant aus, irgendwie unbekümmert. Natürlich nur bei denen, die mit offenem Gesicht auf die Welt zugehen. Die »da« sind, die sie wahrnehmen und fühlen. Schlurfen ist unsexy, Rundrücken (vom vielen Fläzen auf der Fernsehcouch) und abwesende Augen auch. Gehen und sich bewusst sein, dass man geht: seine Muskeln empfinden, die Sehnen, die Hüften, das erhebende Feeling, sich lebendig zu spüren.
In Los Angeles nennen sie einen »pedestrian« eine Person, die zu Fuß auf ihren Wagen zugeht. Deshalb sehen 65 Prozent der Einwohner wie geplatzte Kürbisse aus. Sie gehen nicht mehr, sie wanken nur noch, schwer gebeutelt von Fresssucht und Trägheit. Auch sie haben ihre sexy Tage schon hinter sich, auch sie haben vergessen, dass Gehen ein Vergnügen sein kann, eine Beschäftigung, die noch ganz nebenbei dem Körper zu Anmut und Wohlbefinden verhilft. Ich warte auf den Kran, der sie vom Küchentisch in ihr Auto hievt. Damit auch die letzten Spuren von Sinnlichkeit – Gehen ist sinnlich – aus ihrem Leben verschwinden.
Ach, wenn sie wüssten: von den Glückshormonen, die ein Reisender ausschüttet, wenn er in einer fremden Stadt ankommt und – zu flanieren beginnt. In Schrittgeschwindigkeit alles entdeckt, was ihm fremd ist. Inniger und umwegloser kann einer nicht lernen. Ununterbrochen an Farben und Gerüchen, an Lauten und Sprachfetzen vorbei, die er nicht kennt, nie gesehen, nie gerochen, nie gehört hat. Nichts trägt ihn näher heran als seine Beine. Ohne zu hupen, ohne Bremsweg, ganz sacht und unauffällig kann er stehen bleiben, braucht keine Parklücke und keinen Parkwächter. Und steht. Und starrt. Und staunt. Reisen kann verblüffend unspektakulär sein: keinen Wasserfall sieht er, keine Löwenherde, keinen Breakdance-Weltmeister, keinen Jongleur mit 24 Suppentellern, nein, nur den Alltag einer fremden Welt. Wer dann genau in sich hineinhorcht und inzwischen begriffen hat, dass dieser Augenblick des Zaubers nie wiederkommt, der wird ein bisschen überschwappen vor Glück: weiß er doch wieder, dass die Welt anschauen zu den sieben Wundern eines Menschenlebens gehört.
O. k., ich habe schon von einem gehört, der auf Stelzen durch Sibirien ging. Um auf das weltweite Umhauen der Wälder aufmerksam zu machen. Von einem anderen war zu lesen, dass er mit einem Bein vom Nordpol zum Südpol hüpfen wollte. Sicher, um uns an das Verschwinden der Eisberge zu erinnern. In Lhasa sah ich tibetische Mönche, die den weiten Weg von ihrem Dorf per Prostration zurückgelegt hatten: bäuchlings, sie also die Beine nur noch benutzten, um sich aufzurichten und ein weiteres Mal auf den Boden zu werfen. Somit jedes Mal eine Körperlänge näher dem Jokhang Temple kamen. Als »Demutstraining«, so erklärte es mir ein Pilger, »vor dem Göttlichen«.
Mir ist jeder Irrsinn recht, solange ich nicht dazu gezwungen werde. Ich selbst will nur schlendern dürfen, mit nichts als meinem Paar Beinen. Will nicht ins Buch der Rekorde, will nicht als bizarrer Vogel bekannt werden, will mich vor keinem Menschen – und erst recht vor keinem Gott – in den Staub krümmen, ja will nichts wissen von »holy places«, will nur jedem seinen Aberglauben
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