Gebrauchsanweisung für die Welt
sehen. Vielleicht den Haaransatz der geheimnisvollen Italienerin, mehr nicht, sicher nicht das berühmte Lächeln (das angeblich die schlechten Zähne des Modells kaschieren sollte). Macht nichts, das Handy wird gezückt, um das Gemälde zu fotografieren. Geht aber auch nicht, denn vor ihnen haben alle anderen ebenfalls ihr Mobiltelefon in die Höhe gestreckt. So machen Leute Bilder von Leuten, die ein Bild von einem Bild machen wollen.
Deshalb stillstehen und empfinden. In diesem Fall ein anderes Wunder im Louvre suchen. Und staunen. Wer das noch kann, das Schauen, hat vorläufig gar keine Zeit, irgendwelche Gerätschaften zu postieren. So beschäftigt ist er mit dem Wahrnehmen . Wahr im Sinne von letzter Intensität. Das gilt für mich als Schreiber nicht anders. Kommt eine Sensation auf mich zu, dann denke ich ja auch nicht über die Wörter nach, um dieses Wunderwerk zu beschreiben. Im Gegenteil, ich verbitte mir derlei Ablenkungen. Ich tue alles, damit mich der Anblick – widerstandslos – überrollt. Denn dieser Hunger nach den tiefen, bodenlosen Gefühlen, der jagt mich noch immer.
Nehmen wir ein drastisches Beispiel, das allen einleuchten sollte: Ein Mann und eine Frau lieben sich, physisch, nackt, schweißgebadet erregt. Wer von uns würde nicht ihn oder sie beneiden. Zwei, die mit allem einverstanden sind, was sie sich gerade an Begehren und Verlangen schenken. Wie grotesk wäre die Idee, jetzt einen Apparat hervorzuholen, um die Intimität festzuhalten. Denn das Mitreißendste an diesem »Akt« ist seine radikale Ausschließlichkeit. Deshalb fasziniert uns Sex so machtvoll. Weil wir spüren, dass er eines der letzten Territorien ist, wo wir noch fähig sind, uns diese Radikalität des Gefühls zu verschaffen. Eine Stunde tiefer Empfindung im Meer der Banalität, der lauwarmen Sauce des Alltags. (Die Zeiten haben sich geändert: Wer heute einen Porno anschaut, sieht kein Paar mehr, sondern zwei Personen, die – ziemlich desinteressiert aneinander – den Vorgang des Gefilmtwerdens dazu benutzen, ihre primären und sekundären Geschlechtsorgane fotogen in Stellung zu bringen. Sie haben keinen Sex, sie inszenieren »Geilheit«.)
Wäre es nicht großartig, wenn wir etwas vom Zauber der Hingabe beim Reisen wiederfinden würden? Ob mit oder ohne Eros. Nur wieder lernen würden, »andächtig« zu werden vor der Welt, wieder verzaubert sein zu können von den Zauberstücken, die sie uns bietet.
Ich erinnere mich an eine Fahrt durch Australien. Zwei Bänke hinter mir saßen die beiden anderen Passagiere, zwei Engländerinnen. Als der Bus an einem der Weltwunder – dem Ayers Rock , dem Uluru – vorbeizog, sahen die zwei auf ihrem DVD-Player einen Hollywood-Larifari mit dem sinnigen Titel Perfect Picture an. Aus Mitgefühl angesichts so viel Ignoranz machte ich die beiden auf den famosen Monolithen aufmerksam. Und was geschah? Die zwei »Reisenden« holten ihre (vollautomatischen) Kameras heraus, schwenkten zum Fenster, knipsten dreimal und kehrten wieder zum Zelluloid-Käse zurück.
Die Wirklichkeit interessierte die Freundinnen – immerhin kamen sie aus einem 16 980 Kilometer entfernten Land – einen Furz. Ein Foto von ihr – sozusagen als Beleg für »Hurra, wir waren da!« – reichte völlig. »Déjà mort«, sagen sie in Frankreich zu solchen Leuten: Schon tot! Das Bemerkenswerte an diesem Totsein ist die Tatsache, dass die Toten nicht wissen, dass sie bereits als Leiche unterwegs sind. Nur die Beerdigung verzögert sich noch. Viele solcher Tote gibt es. Weltweit, unzählige.
Danke, Leser, für den Langmut, aber dieser magische Moment brauchte ein Vorwort. Doch jetzt fängt er an. Er passierte als letzter Teil einer Geschichte, die mir auf Tanna widerfahren ist, einer Insel, die zu Vanuatu gehört, einem kleinen Staat in der Südsee. Hier war ich dank irrwitziger Verwechslungen zum lang erwarteten Messias ausgerufen worden. Zuletzt schickten mir die Einheimischen die Dorfschönste an mein Nachtlager. Aus purer Dankbarkeit für meinen Auftritt. Als Gott.
Aber sie hatten noch ein Geschenk in petto. Zwei Tage nach dem schönen Wahnsinn fuhren mich ein paar meiner »Jünger« zum Vulkan Yasur , frühmorgens. Drei Männer und eine alte Frau aus dem Dorf Yaneumakel, wo ich übernachtet hatte. Bis auf 150 Meter kamen wir mit dem Geländewagen an den Schlund heran, dann zu Fuß weiter.
Das Feuer, das der Vulkan in den Himmel spie, sah phantastisch aus. Aber das war es nicht, war nicht die
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