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Gebrauchsanweisung für die Welt

Gebrauchsanweisung für die Welt

Titel: Gebrauchsanweisung für die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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kapitalistischer Kollege Truman. Eine rote Atombombe musste her. So kam aus Moskau der Auftrag, in der »Sowjetisch besetzten Zone« (der späteren DDR) nach dem »Erz des Friedens« zu graben, dem Massen mordenden Atombomben-Uran.
    Ab 1946 fuhren Rollkommandos übers Land, um Arbeitskräfte anzuheuern. Wismut zog, das Angebot klang im bitterarmen Deutschland verlockend: doppelter Lohn, ein Dutzend verschiedener Zusatzprämien, ausreichend Verpflegung, Beschaffung einer Unterkunft, ein eigenes Transportsystem. Wer nicht spurte, wurde zwangsrequiriert: Ehemalige Nazis, »Landstreicher«, Kriegsgefangene, sie alle kamen »zur Bewährung« in die Stollen. Nie fiel ein Wort über die Gefahren der Arbeit. Es fragte auch niemand. Das Inferno Weltkrieg überlebt zu haben, essen zu können, arbeiten zu dürfen, nicht nach Sibirien zu müssen, das machte dankbar und leise. Dass die Arbeitgeber aus Moskau mit Bleiwesten einflogen, beunruhigte keinen. Der Tod, vor dem sie sich schützten, war ja nicht sichtbar. Ein freundlicher Tod, still, stumm, geruchlos, nie in Eile. Erst Jahre, oft viele Jahre danach, würde er die Steiger abholen. Ohne jede Anstrengung, denn seine Opfer waren inzwischen lahm und taub geworden, ihre Hände flatterten (Presslufthammer!), der Kopf sauste, der Magen schwärte, Lungen röchelten, Krebse wucherten, ein Herz nach dem anderen verendete.
    Der Anfang jedoch war triumphal: Wildwest in Sachsen. Stunde Null und noch immer am Leben, nicht zu fassen. Auf den Dächern der Züge fuhren sie zur Zeche, bald suchten Hunderttausende nach Uran. Auf einem Gebiet von knapp 10 000 Quadratkilometern. Und die Kohle stimmte, der viele Schnaps war fast umsonst, die Wirtshäuser dampften, Schieber stiegen ab, Spekulanten folgten, an jedem dritten Hauseck lief ein Schwarzmarktgeschäft. Und der Rest der Kraft wurde verprügelt, versoffen, verhurt. Und verspielt. Ein paar Verzockte hingen sich auf, ein Dutzend Nutten stürzte sich syphiliszerfressen in den nächsten Schacht. Es gab schon müdere Zeiten.
    Als ich ein halbes Jahrhundert später vorbeikam, um über die tödliche AG zu recherchieren, hatte die Wiedervereinigung bereits stattgefunden und Wismut war als Uranspender nicht mehr aktuell. Was noch immer war: die toxischen Abraumhalden, die versauten Gewässer, die kontaminierte Erde, die ungeheuren Flurschäden eben, die das Unternehmen hinterlassen hatte. Und die verwüsteten Männer, die bis dahin überlebt hatten.
    Ich kam auch nach Zschadraß. Am hiesigen Krankenhaus hatten sie viele Bergleute operiert. Und operierten noch immer. Chefarzt Doktor W. lud mich zum Abendessen ein, bei sich zu Hause. Ein warmer, kluger Mensch. Ich fragte und er wusste alles. Auch, dass Wismut-Ärzte die Ruinierten meist über ihren wahren Zustand belogen hatten. Statt »todkrank« wurde meist »chronische Entzündung« diagnostiziert. Um sie als Arbeitskräfte zu behalten. Und die Auszahlung der Frührente zu verhindern. Beim Abschied erwähnte der Gastgeber noch, dass für den nächsten Tag eine Operation angesetzt sei. Ich solle doch zuschauen.
    Ich ging zurück zur Klinik, wo man mir ein Zimmer überlassen hatte. Die Sonne war schon verschwunden, aber noch leuchtete ein dunkelgelber Himmel über die Felder. Schöner Anblick. Die Nationalsozialisten hatten hier in der »Landesanstalt« die Opfer ihres Euthanasieprogramms zwischengelagert. Mir wurde bewusst, dass ich zum ersten Mal ein Land bereiste, das sich ebenfalls Deutschland nannte.
    Um 7.30 Uhr morgens, kurz vor der Operation, sprach ich mit dem Kranken. Leichtsinniges Gerede, um ihn aufzumuntern. »Alter: 58« stand auf der Akte von Helmut K. Hätte »78« da gestanden, es wäre nicht aufgefallen. Der Mann war fertig, wismut-fertig. Obwohl er nur fünf Jahre dort als Hauer gearbeitet hatte. K. war lebenslänglicher Nichtraucher und seit Kurzem Besitzer eines Lungenkrebses. Heute sollte der Tumor entfernt werden. Aus Freundlichkeit. Aus keinem anderen Grund. Dem Kumpel, so hatte ich durch einen diskreten Nebensatz des Doktors erfahren, war nicht mehr zu helfen.
    Wie versprochen, durfte ich zuschauen. Aber aus zwei Metern Entfernung. Das waren zwei Meter zu weit. Also bettelte ich und der Arzt schickte mich wieder hinaus. Damit Oberschwester Simone mich »sterilisiere«: zehn Minuten Hände bürsten, fünf Minuten in Alkohol legen, eine keimfreie Schürze anlegen, Kopfbedeckung und Mundschutz, dann zurück in den Operationssaal. Jetzt stand ich neben dem weit offenen

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