Gebrauchsanweisung für die Welt
fern, von früh bis spät. Lauter Nachrichten und Fotos, bei denen nicht recht einleuchtet, wen sie interessieren könnten. Am modernsten sind jene Zeitgenossen, bei denen man »Daumen rauf« anklicken kann. Man wird den Verdacht nicht los, dass die meisten der Opfer – die heimgesuchten Mailempfänger – positiv antworten. Um lästige Fragen zu vermeiden.
Ganz forsch: Ich propagiere das Aushalten dieses anstrengenden Gefühls: der Einsamkeit. Nicht immer, aber immer wieder. Weil so der Reisende »gezwungen« wird, sich mit seiner Umgebung – fern, fremd, unbekannt – zu konfrontieren, sich auf sie einzulassen. Isolierung und Unruhe können ungemein kreativ sein. Unter der Bedingung, dass man nicht sofort die nächstbeste Beruhigungspille – Telefonieren, Fernsehen, Surfen – schluckt. Hat jemand ein bisschen Mut mitgebracht, dann wird er sich an das Nagelneue rantasten, sich trauen, selbst das Risiko eingehen, noch einsamer zu werden. Aber ohne das, verdammt, geht es nicht. »Loneliness makes things happen«, hat mir ein amerikanischer Reporter erzählt. Mit weniger Wörtern kann man es nicht sagen.
Ich will als Schreiber – auch – ein bisschen peitschen. Den Leser, o.k., auch die Leserin. Damit er/sie den Schweinehund – er wildert in jedem von uns – erledigt und loszieht. Denn Reisen – wie das Leben, oder? – lernt jeder nur, indem er es »tut«: mit allen Fehlern, mit allen Irrungen und Trugschlüssen. Und immer, bitte, ohne Nabelschnur, ohne Hotline zu Mutti und Vati, ja, ohne eine einzige Windel.
Ich frage mich, woher diese Sehnsucht kommt, nicht »da« sein zu wollen, sondern woanders. Konkret: schon wieder daheim. Klar, die Einsamkeit. Aber dieser Grund reicht nicht. Dazu kommt, vermute ich, die Lust auf permanente Zerstreuung. Die moderne Gesellschaft mit ihren gigantischen Ablenkungskräften lässt sich keine Gelegenheit entgehen, uns wegzuziehen. Vom innigen Leben. Und hin zum Seichten zu schubsen. Damit wir immer weiter nach Ablenkung hungern. Weil ja das Seichte nichts anrührt in uns, nicht in unser Herz dringt, nichts »kostet« an Widerstand und Eigenverantwortung.
Jeder spürt das, jeden überkommt – immer wieder – das Gefühl, wie unsäglich platt das Leben geworden ist. Fast alle ertappen sich bei solchen Überlegungen. Die Frage ist nur, ob einer die Kraft hat, gegenzusteuern. Um der Flachköpfigkeit zu entkommen.
Nein, ich bin kein Maschinenstürmer, bin eher fasziniert von den Wundern der Technik. Ich benutze sie ja selbst. Nein, ich will nicht auf Bäumen leben und per Rauchzeichen Nachricht von mir geben. Ja, ich will modern sein, teilnehmen am »Zeitgeist«, will nicht von Freund und Feind verlassen und als mümmelnder Giftzwerg vergessen werden. Ja, ich will dabei sein .
Aber zur selben Zeit will ich Weltzugewandtheit üben, will »sinnlich« sein, will meine Sinne spüren, will ausschließlich sein, will mich nicht hinrichten lassen von Nichtigkeiten (»Lagerfeld lüftet Zopf-Geheimnis!« Stopp! »Prinzessin Victoria zeigt ihre Babykugel!« Stopp! »Spielerfrau ist sauer auf Schweini!« Stopp!), will mich retten vor den Abgründen des Geschwätzes, das die – armselige – Welt der Bimbos und Bimbas (die gibt’s in allen Hautfarben) in Atem hält. Immer wenn ich jemanden sehe, der – gelangweilt und lauernd – vor seinem Handy sitzt, würde ich ihn gern fragen: »Wann ist dir zum letzten Mal etwas passiert, das so mitreißend und ergreifend war, dass du NICHT unterbrochen werden wolltest?«
Eben ein Ereignis, das sein Leben reicher machte. Etwas Umwerfendes, das ihn erschütterte. Es muss sich um keine Sensation handeln, um kein Bungee-Jumping vom Montblanc, keinen Ringkampf mit einem Muskelprotz, keinen nächtlichen Dauerlauf durch den Amazonas-Urwald. Es kann der Blick auf eine Landschaft sein, eine Seite in einem Buch, ja eine Zeile, ein Satz, eine heftige Freude. Etwas, das ihn so einzigartig gefangen hielt, dass er jedes Klingeln seines Mobiltelefons überhört hätte, jedes Piepen einer SMS, ja dass er nichts, absolut nichts anderes in diesem Moment erleben wollte als das, was er gerade lebte.
Was muss über uns kommen, um uns zu fesseln? Die Todesangst? Ist der Mensch dann vorhanden, endlich? Muss tatsächlich der Tod her, um uns an das Leben, das ja nur ein Mal stattfindet, zu erinnern?
Ich beobachte gern Leute, die reisen. Mich interessiert, wie sie sich bewegen. Und immer fasziniert mich die eine oder der andere, die ich nachahmen
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