Gebrauchsanweisung für Mecklenburg-Vorpommern und die Ostseebäder
auch die Seerose in Potsdam oder das Ahornblatt am Spittelmarkt in Berlin (2000 abgerissen), aber erst als ich mit Anfang zwanzig das UFO beziehungsweise den alten übergroßen Fernseher auf einem Sockel bewusst wahrnahm, ging mir ein Licht auf. Alle Bauten stammen von ein und demselben Architekten: Ulrich Müther, in Binz geboren und gestorben. Sonderbauten nannte man zu
DDR
-Zeiten seine Kunst. Geschwungene, hauchdünne Stahlplatten mit einer dünnen Spritzbetonschicht bilden seine Dächer über ziemlich viel Glasfront. Seine Modelle baute er aus Sand und Fischernetzen. Und wer sich für Architektur begeistern kann und von Giebelhäusern und gotischem Backsteinirgendwas genug hat, der sollte sich auf Müthers Spuren begeben.
Erwachsensein und Cocktails trinken wollten wir einerseits und andererseits jung sein und aus Büchsen essen. Zelten wurde in meiner Clique populär. Dabei entdeckte ich die beiden südlichen Halbinseln Zudar und Mönchgut im Südosten Rügens. Dort erlebte ich, dass man sehr wohl seine Ruhe auf Rügen haben kann und beim Spazieren entlang der Kornfelder keine Menschenseele treffen muss, dass es eben doch möglich ist, auf Rügen einen Strandabschnitt ganz für sich zu haben (Palmer Ort). Neben dem ruhigeren Zudar und dem ebenfalls weniger wuseligen Mönchgut, wo man die um 1400 von Mönchen errichtete Kirche in Middelhagen besuchen sollte, hängen am Rockzipfel des Mutterlandes Rügen noch zwei weitere Halb- und eine ganze Insel: im Norden das Windland Wittow mit dem Kap Arkona, im Nordosten die Halbinsel Jasmund mit den Kreidefelsen, und im Westen erreicht man über Rügen die eigenständige Insel Ummanz, die sich keine drei Meter über den Meeresspiegel erhebt.
Lange habe ich mit Rügen nicht richtig Freundschaft schließen können. Mir war die Insel zu wenig inselig, zu groß und zu touristisch. Doch mittlerweile habe ich Kreidefelsen, Rapsfeld, Bädervilla und Rasenden Roland einfach komplett gegen die Schönheit der ruhigen rügenschen Halbinseln und Ummanz eingetauscht und besuche und entdecke die größte Insel Deutschlands inzwischen sehr gern.
Andere Bundesländer haben Almen, wir haben Inseln. Wir sitzen nicht auf einem Berg und schauen ins Tal hinab. Wir schauen geradewegs geradeaus. Wir klettern nicht, wir lassen uns treiben.
Rügen gehört sozusagen in die touristische Europaliga, dorthin, wo die Konkurrenz Korsika heißt, Sardinien oder Bornholm. Die Stubbenkammer gehört nach Dover, wo jede anständige weiße Klippe hingehört. Im Übrigen ist Rügen eine Insel des 19. Jahrhunderts. Der Schmelz dieser Zeit ist viel stärker als die dünne Schicht DDR, die sich wie Patina über alles gelegt hat. (Aus: »Rügen, Hiddensee, Stralsund. Der Reisebegleiter« Tom Peuckert)
Hiddensee
Offiziell gilt Hiddensee als kleine Schwester Rügens. Wie alle kleinen Schwestern ist Hiddensee bildschön, ein bisschen wild, ein bisschen unterschätzt und Liebling vieler Tanten und Onkel. Zu den berühmtesten Tanten und Onkeln, die Hiddensee stets bevorzugt haben, gehörten unter anderem Gerhard Hauptmann – sein Haus ist mittlerweile ein Museum –, der dänische Stummfilmstar Asta Nielsen, Albert Einstein, Joachim Ringelnatz und die Malerin Henni Lehmann, die ihr Anfang der Zwanzigerjahre erworbenes Haus durch einen blauen Anstrich zur Blauen Scheune machte. Es ist das letzte erhaltene Rookhuus (Rauchhaus), in dem der Rauch nicht durch einen Kamin, sondern durch Löcher und Ritzen im Dach entweicht. Neben dem Hexenhaus der Baba Jaga zählte die Blaue Scheune zu den Traumhäusern meiner Kindheit.
Schon als ich noch klein war erschien mir die nur 19 Quadratkilometer große Insel wesentlich schöner und aufregender als Rügen. Nach Rügen reist man schnöde per Auto und ist von Stralsund aus in zehn bis fünfzig Minuten ziemlich genau da, wo man hin will, auf irgendeinem Großraumparkplatz, möglichst nahe dem nächsten Strand. Hiddensee, westlich von Rügen gelegen, erreicht man dagegen nur per Fähre oder, wer es schneller braucht, per Wassertaxi. Abfahrtshäfen sind Stralsund und Schaprode auf Rügen. Während der Überfahrt wird sich zwischen einem Paar Wiener und einem Apfelkuchen entschieden, dazu ein Käffchen und eine frische Brise an Deck, und irgendwer erklärt bestimmt irgendwem das Rezept der regionalen Spezialität, dem Schmoraal, den beinahe jede Hiddenseer Familie anders zubereitet.
Abgesehen von der Anfahrt, ist auch die Insel selbst sonderbar genug, um Kinder und
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