Gebrauchsanweisung für Südengland
kurbeln wir die Fenster herunter und atmen tief durch. Selbst der Wind riecht nach England.
Egal, ob Sie ab Ostende oder Calais anreisen: Eine Reise nach Südengland beginnt mit der Überfahrt über den Ärmelkanal. Man könnte natürlich auch nach London fliegen und ein Auto mieten. Oder den Kanal unterqueren. Letzteres kostet genauso viel wie die Fähre und ist im Prinzip recht einfach: Man fährt in einen Zug wie in eine Waschstraße hinein, bleibt eine halbe Stunde im Auto sitzen und vertreibt sich die Zeit damit, den Sender mit den Tunnel-News im Autoradio zu finden. Dann fährt man aus dem Zug wie aus einer Waschstraße wieder hinaus, mit dem einzigen Unterschied, daß das Auto noch genauso dreckig ist wie vorher. Früher boten die Fährge- sellschaften übrigens den kostenlosen Service an, daß die Windschutzscheibe während der Überfahrt gründlich vom Schmutz gereinigt wurde. Leider ist dieses praktische Angebot irgendwann Sparmaßnahmen zum Opfer gefallen. Aber zurück zum Tunnel: Nachdem man in einer utopisch anmutenden Landschaft im Hinterland von Calais in Frankreich im Erdboden verschwand, taucht man irgendwo in den grünen Hügeln von Kent wieder auf. Genau das ist die Krux. Vom Ärmelkanal hat man bei dieser Art der Anreise nicht einen Tropfen gesehen, und man kann sich des Gefühls nicht erwehren, um eine Erfahrung betrogen worden zu sein.
Lassen Sie mich an dieser Stelle den Begriff Südengland näher definieren: Streng genommen handelt es sich dabei um den Teil der Insel, der sich südlich der M4, der Autobahn, die London mit Bristol verbindet, von Kent im Osten bis, na sagen wir, Wiltshire erstreckt. Danach beginnt eigentlich der Westen, der aber, da er in England im Süden liegt (der geographische Westen des britischen Hauptlandes ist nämlich Wales), großzügig in den Begriff Südengland mit eingemeindet wurde. Die Rede ist von den Grafschaften Dorset, Somerset, Devon und Cornwall. Allerdings fällt das keltisch geprägte Cornwall, die westlichste Spitze des in den Atlantik ragenden Zipfels, dann doch wieder etwas aus dem Rahmen, da Cornwall eben Cornwall und nicht so richtig England ist.
Die Britische Fremdenverkehrszentrale unterteilt Südengland in drei Teile: Südostengland, Südliches England und »The West Country«, den Westen. Dessen Lage habe ich Ihnen oben bereits beschrieben, aber mit dem sogenannten »Südlichen England« verhält es sich auch recht kurios: Eingepfercht zwischen Südosten und Westen macht »Southern England« einen gewagten Schlenker weit nach Norden, über die M4 und die Themse hinaus, sogar bis nach Milton Keynes. Nach dieser Interpretation gehört auch Oxford ganz offiziell zum englischen Süden. Da die Britische Fremdenverkehrszentrale, auf diesem Gebiet garantiert als Autorität zu verstehen, auch Dorset mit zum »Südlichen England« zählt, die Grafschaften Somerset und Avon aber – zu Recht – zum Westen, kommt es zu einem weiteren geographischen Kuriosum: Plötzlich liegt in diesem Teil Großbritanniens der Westen zur Abwechslung mal nördlich vom Süden. Verwirrt? Macht nichts. Sie werden sich trotzdem zurechtfinden. Statt der geographischen Eigenheiten könnte ich Ihnen genauso gut die Spielregeln von Cricket erklären. Frei nach dem Motto: Wer drin ist, ist nicht dran, denn dran ist, wer draußen ist. Oder so ähnlich. Aber dazu kommen wir später noch einmal im Detail.
Deshalb zurück zur Geographie. Aus persönlichen Gründen überwiegen in dieser Gebrauchsanweisung Geschichten über die Menschen im Westen, der aber, siehe oben, auch Süden ist, deshalb von Deutschen in der Regel mit »Südwesten« beschrieben wird, auf Englands Autobahnen aber einfach mit
»The West« ausgeschildert ist, auch wenn Sie bei Bristol auf die M5 Richtung Süden abbiegen müssen, da Sie sonst, wenn Sie wirklich weiter nach Westen fahren würden, in Wales landen würden. Aber das sagte ich ja schon.
Doch sind die Himmelsrichtungen eigentlich völlig irrelevant. Denn fast alles im Leben und ganz besonders in England ist relativ und im übrigen – vielleicht werfen Sie einfach einen Blick auf eine Landkarte, wenn Sie im Zweifel sind.
Südengland ist freilich nicht nur ein Flecken auf der Landkarte, sondern steht für all das, woran wir denken, wenn wir England hören: Sprache, Kultur und Lebensart, eingebettet in einer lieblichen Landschaft, prägen unser Bild vom Nachbarn jenseits des Kanals, der sich in typisch englischer Liebe zur Exzentrik weiterhin –
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