Gebrauchsanweisung für Südengland
mehr oder weniger erfolgreich – darum bemüht, in splendid isolation europäischer Gleichmacherei zu trotzen.
Der englische Süden hat dem ganzen Land die Standardaussprache gebracht, die die absonderliche Bezeich- nung »Received Pronunciation« trägt, der selbst den Wissen- schaftlern, die ihn prägten, zu lang ist, und deshalb kurz und bündig »RP« genannt wird.
Die englische Sprache wird in vielen verschiedenen Akzenten gesprochen. Die »Ureinwohner« des Westens sprechen in einem sanften Schnurrton, dem burr, der sich auch in der amerikanischen Aussprache wiederfindet. Das Cockney Londons wanderte mit den ersten (unfreiwilligen) Siedlern nach Australien aus. Der Akzent der Midlands und des englischen Nordens, der zum Beispiel mit Vorliebe aus einem langen »a« ein kurzes »u« macht (aus love wird so etwas wie luv), ist in britischen Fernsehserien wie der Dauersoap »Coronation Street« allgegenwärtig. Aber es ist die gepflegte Aussprache der Grafschaftsbewohner südlich von London, die von den Ansagern und Moderatoren der BBC in Radio und Fernsehen benutzt wird. Auch unser Schulenglisch basiert, zumindest in der Theorie, auf diesem Akzent, den wir auch als »Oxford English« kennen, da seine Gralshüter in der altehrwürdigen Universitätsstadt angesiedelt sind.
Das Phänomen, daß der Akzent nicht nur die regionale Herkunft, sondern auch etwas über die Schulbildung und damit die Klassenzugehörigkeit verrät, ist in England besonders ausgeprägt. Übrigens sprechen nur ungefähr drei Prozent der Bevölkerung ständig in »RP«, der Rest hält eisern an regionalen Akzenten fest, trotz des gesellschaftlichen Drucks und der Egalitarisierung durch das Fernsehen. Kein Arbeiter, der etwas auf sich hält, würde freiwillig die als pikfein geltende Standardaussprache von sich geben. Wehe aber, bei einem BBC-Sprecher ist auch nur ein Hauch von regionaler Spracheinfärbung zu hören, dann bricht ein Sturm der Entrüstung über dem Sender los.
Kein Wunder, daß der englische Süden die allgemein akzeptierte Hochsprache hervorgebracht hat und auch tapfer hält. Trägt doch nicht umsonst die Gegend südlich von London den Spitznamen Stockbroker Belt. Hier wohnen wohlhabende Menschen, die tagsüber in der Londoner City viel Geld verdienen und abends in ihre gepflegten Anwesen nach Kent oder Surrey zurückkehren. Der »Börsenmaklergürtel« bildet einen ständig wachsenden Ring von Vororten um London, in denen die Häuser alle so aussehen, als seien sie kürzlich den Zeitschriften »Homes & Gardens« oder »Country Living« entstiegen. Wagen der Luxusklasse und geländegängige Jeeps, die sich wohl kaum je auf einer unbefestigten Straße werden bewähren müssen, stehen in kiesbestreuten Auffahrten vor Mock-Tudor-Villen, man spielt Tennis, Golf und hält ein Pferd.
Der Süden Englands wird eher mit Reichtum assoziiert als der rauhere Norden, den man mit Arbeiterstädten, rauchenden Schloten und der Wiege der Industriellen Revolution in Verbindung bringt. Die viktorianische Schriftstellerin Elizabeth Gaskell widmete 1855 dem Unterschied zwischen den Werten und Gebräuchen des ländlichen Südens und des industriellen Nordens den Roman »North and South«. Vieles hat sich zwar seitdem verändert, vieles nicht.
Im Süden gibt es keine nennenswerte Großindustrie. Die Wirtschaft ist vom Dienstleistungsgewerbe geprägt. Auch die Landwirtschaft spielt immer noch eine große Rolle, wenn auch den Farmern das Überleben angesichts verfehlter Agrarpolitik, BSE, Maul- und Klauenseuche und Schweinefieber immer schwerer fällt. Natürlich gibt es auch im Süden nicht nur reiche Menschen. Gerade die ländlichen Gebiete im Westen, in denen in den letzten Jahren immer mehr Betriebe geschlossen wurden, verlieren die jungen Leute an die Städte, allen voran London. Watchet in Somerset, um nur ein Beispiel zu nennen, war noch vor wenigen Jahren ein florierendes Hafenstädtchen. Ältere Einwohner erzählen vom regen Treiben auf der Hauptstraße, auf der die Näherinnen der Hemdenfabrik flanierten, während im Hafen Holz, Eisenerz, walisische Kohle, Getreide und Papier umgeschlagen wurden. In der umgebauten Hemdenfabrik ist heute unter anderem die Arztpraxis untergebracht. Dort, wo Näherinnen und Hafenarbeiter einst ihren Lunch einnahmen, fristet jetzt einer von vielen Trödelläden sein verstaubtes Dasein. Der Hafen wurde gerade mit europäischen Zuschüssen für regionale Entwicklung zu einem Yachthafen umgebaut, mit
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