Gedankenmörder (German Edition)
geschüttet, und Steenhoff hatte Marie zu einem «Ausflug» in die Innenstadt mitgenommen. Doch statt einen Einkaufsbummel mit ihr zu machen, war er mit Marie in den Bleikeller gegangen. In der darauffolgenden Nacht hatte keiner in der Familie schlafen können. Der Anblick der Mumien hatte Marie arg zugesetzt.
Abends war sie plötzlich in Tränen ausgebrochen und wollte nicht allein in ihrem Zimmer schlafen. Ira machte ihm damals schwere Vorwürfe.
«Du und deine Toten. Habt ihr von der Mordkommission eigentlich überhaupt kein Gespür dafür, wie es ist, wenn man als Kind das erste Mal eine Leiche sieht? In den Sommerferien schleppst du sie dann womöglich in die Rechtsmedizin und im Herbst zu einem Mordprozess ins Landgericht.»
Ira war gar nicht mehr zu stoppen gewesen. Schließlich war er wütend ins Gästezimmer gestapft und hatte getrennt von seiner Frau geschlafen. Es hatte drei Tage gedauert, bis der unselige Ausflug endlich vergessen war.
Doch seitdem hatte Steenhoff noch strenger als zuvor darauf geachtet, dass Marie nichts von seiner oft bedrückenden Arbeit erfuhr. Das war manchmal nicht leicht. Zumal manche seiner Fälle ausgiebig im Weser-Kurier beschrieben wurden. Hakte Marie bei ihrem Vater nach, wimmelte ihr Vater sie stets mit den gleichen stereotypen Sätzen ab. «Du weißt doch, wie die Journalisten sind. Die reimen sich viel zusammen und machen es dreimal so dramatisch, wie es wirklich war.»
Bislang hatte Marie sich mit dieser Erklärung immer zufriedengegeben. Obwohl sie bald 16 Jahre alt wurde, war sie noch sehr verträumt. Ihre Gedanken drehten sich hauptsächlich um Pferde, Sättel und Reittechniken. Mindestens einmal pro Woche malte sie ihren Eltern aus, wie es sein würde, später als Pferdezüchterin in Kanada zu leben.
Ein unterdrücktes Niesen seiner neuen Kollegin holte Steenhoff wieder zurück. ‹Sieben Minuten›, stellte er beim Blick auf seine Uhr fest.
Mit einem lauten Seufzer erhob er sich aus seinem Sessel.
«Gut, wenn Herr Dr. Decker jetzt keine Zeit hat, dann berufen wir erst einmal die Pressekonferenz ein. Die Öffentlichkeit hat ja auch ein Recht, über diese ungeheuerliche Tat zeitnah informiert zu werden.» Wie immer verfehlten seine Worte nicht ihre Wirkung.
Während Petersen ihn erstaunt anschaute, sprang die Sekretärin augenblicklich auf.
«Moment, bitte. Ich schaue schnell mal nach, wie lange es noch dauern wird.»
Steenhoff sah seine Kollegin verschwörerisch an. «Maximal 30 Sekunden.»
Einen Moment später ging die Zwischentür zum Chefzimmer auf. Dr. Decker stand höchstpersönlich in der Tür. Ein hochgewachsener Mann Anfang 50 , der außer einer knallroten Krawatte ganz in Schwarz gekleidet war. Von der ersten Sekunde an verbreitete er die Aura eines Menschen, der es gewohnt war, Anweisungen zu erteilen.
«Entschuldigung, dass Sie warten mussten. Kommen Sie herein. Frau Geber, bitte machen Sie uns einen Kaffee. Oder trinken Sie lieber Tee?», erkundigte sich der Geschäftsführer des Krankenhauses bei den beiden Beamten.
Während sich Dr. Decker hinter einen monumentalen Schreibtisch aus Kirschholz setzte, der, wie Steenhoff überschlug, vermutlich mehr als ein Monatsgehalt von ihm verschlungen hätte, schaute er sich in dem elegant möblierten Büro um. Nichts deutete darauf hin, dass hier auch gearbeitet wurde. Der Raum schien vor allem der Repräsentation zu dienen.
«Von diesem Vorfall darf natürlich nichts nach außen dringen. Dafür bürgen Sie mir, Herr Kommissar.»
Mit festem Blick fixierte der Geschäftsführer seinen Besucher. Navideh Petersen schien er gar nicht wahrzunehmen.
«Wir treffen unsere Entscheidungen aus ermittlungstechnischen Erwägungen und nicht aus Marketinggründen», erklärte Steenhoff ruhig. Doch Decker war niemand, der sich von einem Polizisten in die Schranken weisen ließ.
«Sie verstehen ganz offensichtlich nicht die Tragweite, die solch eine Geschichte in der Öffentlichkeit für uns hätte. Wir stehen in einem harten Konkurrenzkampf mit den anderen Bremer Krankenhäusern.» Roh fügte er hinzu: «Ich bin nicht bereit, drei Jahre erfolgreiche Image-Arbeit für solch einen bedauerlichen Vorfall einfach in die Tonne zu treten. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.»
Steenhoff schwieg. Einerseits konnte er den Geschäftsführer sogar verstehen. Eine Leichenschändung im Krankenhaus wäre ein gefundenes Fressen für die Medien, die Rufschädigung enorm. Er konnte sich schon die reißerischen
Weitere Kostenlose Bücher