Gedankenmörder (German Edition)
er aber nur zu gut, dass er während einer Mordermittlung mehr Zeit bei der Arbeit als bei seiner Familie verbrachte. Schließlich hatte er es irgendwann geschafft, die Comicbilder komplett zu ignorieren. Nun hatte er endlich sein eigenes Reich.
Am frühen Nachmittag hatte Steenhoff bis auf eine Kiste alle Unterlagen einsortiert. Die beiden Schreibtische in dem Büro standen sich nun schräg gegenüber und machten den kleinen Raum optisch etwas größer. Zuerst hatte Steenhoff seinen Tisch ans Fenster geschoben. Doch für die neue Kollegin wäre bei dieser Raumaufteilung nur der Blick auf eine Wand geblieben. Eine klare Benachteiligung, die Steenhoff sofort ins Auge stach. Nach einigen weiteren Versuchen hatte er sich dafür entschieden, die beiden Schreibtische einander gegenüberzustellen.
Ein wuchernder Benjamini trennte beide Tische optisch voneinander. So konnte er sich beim Telefonieren ungestört fühlen, dachte Steenhoff zufrieden.
Die ersten Märztage verbrachte Steenhoff damit, sich einen alten, ungelösten Fall noch einmal vorzunehmen. Vor drei Jahren war eine Rentnerin bei einem Einbruch im Bremer Norden mit einem massiven Gegenstand in ihrer Zweizimmerwohnung niedergeschlagen und getötet worden. Der Schlag auf den Hinterkopf war so stark gewesen, dass die Schädeldecke zertrümmert wurde. Eine derart schwere Verletzung hatte Steenhoff zuvor noch nie gesehen.
Der drogenabhängige Enkel war damals ebenso in Verdacht geraten wie ein junger Mann, der schräg gegenüber wohnte. Von beiden Männern fanden die Ermittler Fingerabdrücke in der Wohnung. Doch offenbar hatte die Frau ihren Enkel und den jungen Nachbarn wiederholt um kleine Gefälligkeiten gebeten und sie dafür meist mit einigen Euro entlohnt.
Bei der Suche nach dem Motiv des Täters hatte es innerhalb der Mordkommission verschiedene Theorien gegeben, denn merkwürdigerweise waren nur einige Fächer der Schrankwand im Wohnzimmer durchwühlt gewesen. Den Kleiderschrank im Schlafzimmer aber hatte der Täter nicht angerührt. Immer wieder hatten Steenhoff und seine Kollegen diskutiert, ob es sich nun um einen geplanten Raub mit einer plötzlichen Eskalation gehandelt habe oder um einen persönlichen Racheakt, bei dem der Raub nur vorgetäuscht war. Für die These, dass Opfer und Täter sich kannten und in einer Beziehung zueinander standen, sprach vor allem, dass der Unbekannte der toten Rentnerin noch mehrfach ein Brotmesser in die Brust gerammt hatte. Warum?
Ein klassisches Indiz für einen «Overkill», wie die von Steenhoff befragten Fallanalytiker anmerkten. Wer sein totes Opfer derartig traktiere, setze damit einen gewaltsamen, höchst dramatischen Schlusspunkt unter ein angespanntes emotionales Verhältnis. Andere Kollegen hielten es dagegen für möglich, dass der Täter tatsächlich nur an die Ersparnisse der alten Dame wollte und bei der Suche nach Geld durch ein Geräusch im Hausflur gestört worden war. Anschließend war der Unbekannte über den Balkon geflüchtet. Da sich die Wohnung des Opfers im zweiten Stock des Hauses befand, musste der Täter sehr sportlich sein.
Sie hatten damals die Medien eingeschaltet, alle Bewohner der umliegenden Wohnblocks befragt, die Angehörigen und zahlreiche Alibis überprüft und am Ende mehrere Verdächtige, aber keinen heißen Kandidaten gehabt. Vor kurzem nun hatten sich Angehörige der Toten erneut bei Steenhoff gemeldet. Eine alte Freundin der getöteten Frau hatte ihnen aus einem Seniorenheim geschrieben und sich dabei schwärmerisch an die gemeinsamen Jahre erinnert. Dabei hatte die Zeugin erwähnt, dass «Hertha» leider stets einen Teil ihres Vermögens in «Spielhöllen» gelassen habe. Steenhoff nahm an, dass die Zeugin von Spielhallen sprach, die in manchen Bremer Stadtteilen wie Pilze aus dem Boden schossen.
Wir müssten noch mal alle umliegenden Spielhallen abklappern, schoss es dem Kriminalhauptkommissar durch den Kopf. Keine Aufgabe, für die er seine Kollegen leicht gewinnen würde, denn sie hatten den Fall schon längst ad acta gelegt. Doch Steenhoff führte in dem Fall die Akte, und bislang hatte er der Staatsanwaltschaft noch in jedem Tötungsdelikt irgendwann einen Täter präsentiert. Schon sein beruflicher Ehrgeiz ließ es nicht zu, dass der brutale Mord an der hilflosen alten Frau ungesühnt bleiben sollte.
Das Klingeln seines Diensthandys riss ihn aus seinen Gedanken. «Frank? Hier ist Werner Müller. Du hast doch diese Woche noch Mordbereitschaft. Wir haben da
Weitere Kostenlose Bücher