Gedenke deiner Taten
der Anleger in Flammen steht oder ihr jemanden entdeckt, schwimmt ihr weiter bis nach Cross Island.«
Wenn sie nur das Boot erreichten. Ansonsten mussten sie den Kanal überqueren. Es stürmte immer noch, aber in der Enge zwischen den Inseln war das Wasser zum Glück weniger unruhig.
Kates Ängste und Schwächen traten immer in den Hintergrund, sobald die Kinder ins Spiel kamen. Dann erfüllte sie ihre Rolle vollkommen und tat das Notwendige, um größere oder kleinere Probleme zu meistern. Das Adrenalin hielt ihre Schmerzen in Schach. Sie spürte kaum, dass sie von den Wellen hin und her geworfen wurde und Unmengen von Wasser verschluckte. Sie ignorierte die bleierne Schwere, die sich in Armen und Beinen ausbreitete.
Während sie trat und strampelte, behielt sie die Köpfe der Kinder, zwei Punkte auf dem Wasser, im Auge. Da das Wasser um die fünfzehn Grad hatte, würde es nicht länger als zehn Minuten dauern, bis ihre Körpertemperatur bedrohlich sank.
Als die Flammen hoch aus den Bäumen schlugen, bekam es Kate wieder mit der Angst zu tun. Der schwarze See reflektierte die orangegelbe Feuersbrunst. Der weiße Mond stand hoch am Himmel, und unzählige Sterne funkelten gleichgültig. Kate konzentrierte sich auf Lulu und Chelsea. Der Anleger war nicht mehr weit, schon konnte sie ihn sehen. Er war leer und hatte kein Feuer gefangen. Das Boot dümpelte auf den Wellen, als warte es auf sie. Vor Freude hätte Kate fast geschrien.
Im selben Moment fing Lulu an, mit den Armen zu rudern. Sie ging unter, kam wieder an die Wasseroberfläche.
»Mom!« Der Wind trug Chelseas gellenden Schrei davon.
Das Adrenalin verdoppelte Kates Kräfte. Sie hatte die Mädchen schnell eingeholt. Chelsea versuchte, Lulu zu halten, die sich nicht mehr bewegte. Sie war noch bei Bewusstsein, aber ihr Blick war glasig. Sie spuckte und würgte.
»Lulu, halte durch«, sagte Kate, »wir haben es gleich geschafft.«
Kate packte Lulu, drehte sie auf den Rücken, legte ihr einen Arm um den Hals und versuchte, ihren Kopf über Wasser zu halten.
»Schwimm«, rief sie Chelsea zu, »schwimm!«
Das Leben, dachte Birdie, ist gar nicht so kostbar. Sie schaute zu, wie die Flammen sich durch das Erdgeschoss des Haupthauses fraßen. Und alle Menschen waren vom Gegenteil überzeugt. Menschen wie Caroline, die ans Übersinnliche glaubten und jeden Augenblick für ein Geschenk hielten. Die das Leben als spirituelles Netz betrachteten, in dem alles mit allem zusammenhing und jede Handlung die Seelen der anderen Netzbewohner berührte. In Birdies Augen war die Welt ein Felsen. Man hatte, was man vor sich sah. Und wenn der letzte Vorhang fiel, kam nichts mehr. Kein göttliches Licht, kein Jenseits. Nur das Ende. Was sollte daran schlecht sein? Welchen Unterschied machte es schon? Wenn sie das laut aussprach, sahen die Leute sie verständnislos an, so als sei ihnen der Gedanke nie gekommen, besonders ihr Mann Joe.
Sie hatte sich den Kragen ihres Rollis über die Nase gezogen. Trotzdem spürte sie den beißenden Qualm in ihrer Kehle. Eigentlich hatte sie das neue Haupthaus nie gemocht. Es gehörte Joe, war ein Sinnbild seines aufgeblasenen Egos. Es geschah ihm ganz recht, dass sein Haus brannte. Das Feuer war die Quittung für seine Schürzenjägerei, für seine zahllosen Affären.
Am Brunnen standen Eimer, und sie hatten eine Handpumpe für den Fall, dass der Generator ausfiel. Selbstverständlich waren Feuerlöscher in jedem Zimmer, aber sie waren nur von Nutzen, wenn man sich beim Ausbruch des Brandes im Haus aufhielt, einen kühlen Kopf bewahrte und schnell handelte. Es war sinnlos, zwei Wassereimer zum Haus zu schleppen – mehr konnte sie ohnehin nicht tragen.
Sie entdeckte die Lichter des Polizeibootes. Sicher hatten sie nur wegen der Wetterlage so lange gebraucht. Der Regen hatte nachgelassen, aber die Wellen schlugen hoch, und der Wind peitschte das Wasser auf. Bestimmt hatten sie der Feuerwehr über Funk Bescheid gegeben. Aber die Hilfe kam zu spät. Vielleicht konnte man noch die kleineren Gebäude retten.
Birdie erklomm die Verandatreppe. Das Fotoalbum lag auf dem Esstisch. Ihre gesamten Kindheitserinnerungen, die einzigen Bilder von ihren Eltern und Geschwistern. Mit Gene hatte sie seit einem Jahrzehnt nicht mehr gesprochen. Er war für sie gestorben und sie für ihn. Dennoch wollte sie die letzte Erinnerung an ihre Kindheit nicht verlieren, selbst wenn die Ehe ihrer Eltern ein Bluff gewesen war.
Sie öffnete die heiß gewordene Fliegentür
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