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Gedenke deiner Taten

Gedenke deiner Taten

Titel: Gedenke deiner Taten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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nachzudenken, löste John die Leinen seines Motorboots. Noch nie hatte er sich auf so unruhiges Gewässer hinausgewagt, aber er konnte nicht untätig herumstehen, wenn andere in Not waren. Er suchte den See ab und meinte, Menschen im Wasser zu erkennen, deren Schreie in der Finsternis übers Wasser hallten. Obgleich der Sturm nachgelassen hatte, waren die Wellen immer noch hoch. Das Wasser war eiskalt. Darin überlebte niemand längere Zeit.
    Er warf den Motor an und rammte beim Rückwärtsfahren zweimal den Anleger, dann gab er Vollgas. Er schaltete den Scheinwerfer ein und richtete ihn aufs Wasser, bis er zwei Gestalten entdeckte. Sie tauchten immer wieder unter, schienen um ihr Leben zu kämpfen.
    Langsam näherte er sich, während das Boot unter seinen Füßen schaukelte. Er schluckte seine Übelkeit herunter. Er fühlte sich der Aufgabe nicht gewachsen. Wie sollte er das Ruder halten und gleichzeitig den Ertrinkenden an Bord helfen? Den Anker konnte er nicht werfen; das Boot würde sich im Nu mit Wasser füllen und sinken.
    Einer streckte einen Arm aus dem Wasser. Auf den zweiten Blick erkannte John, dass es eine Frau war. Mit aller Kraft warf er den Rettungsring in ihre Richtung und verknotete das Seil an der Reling. Er ließ die Leiter ins Wasser und lief ans Ruder zurück, weil das Boot im Begriff war abzutreiben. Er hielt wieder auf die Gestalten zu. Die Frau hatte den Rettungsring gepackt und streckte den Arm nach der zweiten Person aus. John ergriff das Seil und zog.
    Als Erste kam ein junges Mädchen aus dem Wasser. Sie war zu Tode verängstigt. Die tropfenden strähnigen Haare hingen ihr ins Gesicht, ihre nasse Kleidung klebte an ihrem dünnen Körper.
    »Meine Freundin ertrinkt«, kreischte sie, »wir können sie nicht rausziehen!«
    »Kannst du das Steuer übernehmen?«
    »Ja«, rief sie.
    »Versuch, das Boot gerade zu halten.«
    Mit überraschender Sicherheit ergriff der Teenager das Ruder, und John kletterte auf die Leiter. Da entdeckte er Kate Burke, die ein bewusstloses Mädchen im Arm hielt. John ließ sich ins Wasser gleiten, eine Hand an der Leiter, packte das Mädchen, zog es an sich und die Leiter hinauf. Das Adrenalin schoss durch seine Adern, und ohne nachzudenken hievte er den leblosen Körper über die Reling. Hätte man ihn einen Tag zuvor gefragt, ob er dazu imstande wäre, hätte er verneint. Zum Glück war das Mädchen ein Fliegengewicht.
    Er half Kate an Bord, die neben Lulu auf die Knie sank.
    »Mom«, schrie das Mädchen am Ruder, »wie geht es ihr?«
    Kate stützte sich auf den Brustkorb des Mädchens, und John schaute staunend zu, wie sie es wiederbelebte. Er lief ans Heck und nahm dem weinenden Mädchen das Steuer aus der Hand. Es kniete sich neben die Freundin.
    »Lulu«, schluchzte sie, »bitte!«
    John nahm Kurs auf die Rettungsboote, die er zuvor gesehen hatte. Als er Heart Island passierte, fing das Mädchen zu husten und zu spucken an. Die beiden anderen schrien und heulten vor Freude. Johns Hände zitterten, sein Herz stampfte wie eine Dampfmaschine. Über der Insel schlugen gigantische Flammen in den Himmel. Etwas Schöneres und Schrecklicheres hatte er nie gesehen.
    Birdie bekam nur schwer Luft. Das Mädchen regte sich.
    »Sie haben mein Haus angezündet«, sagte sie.
    Emily blieb stumm, rührte sich nicht mehr. Birdies Kraft reichte nicht für einen Wutausbruch. Sie fühlte sich schwach und leer, so als stoße das alles einer anderen Birdie in einem anderen Leben zu.
    Auf einmal entdeckte sie ihn wieder. Er stand genauso da wie beim ersten Mal. Wer war er? Was wollte er von ihr? War er am Ende einer von Carolines Geistern? War der Geist von Richard Cameron gekommen, um auf ihrer Insel zu spuken? Wenn er in jenem Jahr gestorben war, in dem Birdie ihn mit ihrer Mutter erwischt hatte, trug sie möglicherweise eine Mitschuld an seinem Tod. Hatte er Selbstmord begangen? Hatte ihr Vater ihn getötet? Ihre Mutter? Und alles nur, weil Birdie die Affäre aufgedeckt hatte? Nein. Ihre Wahrnehmung spielte ihr einen Streich.
    »Wer ist da?«, schrie sie, »was wollen Sie?«
    Sie zog den Revolver aus dem Hosenbund und zielte. Wie albern: Eine alte Frau schießt auf ein Gespenst, während ihre Insel brennt. Ihre Hände zitterten. Wenn sie bei Verstand wäre, würde sie ins Wasser steigen und den anderen hinterherschwimmen. Aber nun taten ihr alle Glieder weh, und sie war müde. Sie beschloss, sitzen zu bleiben und zu warten.
    Das Mädchen stöhnte auf, und die Gestalt setzte sich in

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