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Gedenke deiner Taten

Gedenke deiner Taten

Titel: Gedenke deiner Taten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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kein Geld übrig.
    »Hast du heute viel Trinkgeld bekommen?«, fragte er.
    Emily verschränkte die Arme vor der Brust. Ja, aber sie brauchte das Geld für die Miete am Freitag.
    »Nein«, log sie. »Wie viel brauchst du?«
    »Ein paar hundert.«
    »So viel habe ich nicht«, sagte sie, »tut mir leid.«
    In letzter Zeit ging sie nach der Arbeit bei der Bank vorbei, um nicht zu viel Bargeld bei sich zu haben. Heute war sie nicht dazu gekommen, weil sie mit dem Bus fahren musste. In ihrer Geldbörse steckten fast hundert Dollar.
    Er sah sie an.
    »Dann zieh dich an und komm mit.«
    »Nein.«
    »Baby«, sagte er, umarmte sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Bitte!«
    Er klang so verzweifelt. Sie würde nachgeben. Dean merkte es gleich.
    »Zieh das blaue Kleid an«, sagte er, »das steht dir gut.«
    Emily machte sich los, ging ins Schlafzimmer und zog die Tür hinter sich zu. Ihr Herz raste. Warum war sie so schwach? Sie nahm das blaue Wickelkleid aus dem Schrank und schlüpfte hinein. Im Bad kämmte sie sich die Haare und legte Lippenstift auf. Ganz hübsch , hörte sie ihre Mutter sagen, aber Durchschnitt . Emily griff nach der schwarzen Ledertasche und zog die passenden Ballerinas an, Geschenke von Dean, die er sich eigentlich nicht leisten konnte. Am liebsten hätte sie sich schlafen gelegt. Sehnsüchtig schielte sie zu der dicken Daunendecke und den weichen Kissen hinüber. Nach der hektischen Morgenschicht war Emily immer so müde. Wenn sie sich jetzt doch einfach hinlegen könnte. Aber sie würde tun, was er verlangte, und mitkommen. Als sie ins Wohnzimmer trat, begrüßte er sie mit einem breiten, aber keineswegs liebevollen Lächeln. Er schien zu triumphieren.
    »Das ist meine Freundin Emily«, sagte er. »Em, das ist mein alter Freund Brad. Wir kennen uns aus Florida.«
    Dean hatte in Florida im Gefängnis gesessen, drei Jahre für bewaffneten Raubüberfall. Umgezogen war er nur, das hatte er ihr erzählt, um seinem alten Leben zu entkommen. Emily fragte sich, ob man die Vergangenheit überhaupt hinter sich lassen konnte. Offenbar nicht.
    Sie schüttelte Brads Hand, die sich unerwartet weich anfühlte. Seine langen, blonden, ungekämmten Haare fielen ihm bis auf die Schultern, sein Kinnbart war anscheinend schon länger nicht gestutzt worden. Eigentlich sah er gar nicht so schlecht aus, aber der verkniffene Mund und die schmalen Augen verliehen ihm etwas Gemeines. Er musterte sie unverhohlen gierig. Emily drehte sich schutzsuchend zu Dean um, der sie mit besitzergreifender Geste umarmte.
    »Schön, dich kennenzulernen«, sagte Brad. Klang das irgendwie spöttisch?
    Dean fuhr. Brad saß auf dem Beifahrersitz, Emily auf der Rückbank. Sie schwiegen, bis Dean von der Hauptstraße abbog und in ein Neubaugebiet fuhr. Schilder wiesen ihnen den Weg zur Hausbesichtigung.
    »Sieh dir diese Häuser an«, sagte Dean.
    Sie waren riesig, eines größer als das andere, gebaut aus Ziegel- und Bruchsteinen, manche drei Stockwerke hoch. Als Emily Dean kennenlernte, arbeitete sie für eine Reinigungsfirma. Viele ihrer Kunden hatten hier gewohnt.
    Sie konnte kaum glauben, dass man so leben konnte – mit Fernsehzimmer und Fitnessraum im Keller, mit Schlafzimmern größer als ihr Häuschen und mit großen, luxuriösen Küchen, die selbst jedem Restaurant Konkurrenz gemacht hätten, auch wenn sie, wie Emily bei ihren wöchentlichen Besuchen bemerkte, kaum jemals benutzt wurden. Am beeindruckendsten fand sie die Kinderzimmer: Schränke voller Designerklamotten, Computer, iPods, Spielkonsolen, Bücherregale und Berge von Spielsachen.
    »Ekelhaft«, sagte Dean. Brad grunzte zustimmend.
    Emily war anderer Meinung. Was war ekelhaft daran, viel zu arbeiten, reich zu werden und sich ein schönes Leben zu gönnen? Die meisten Auftraggeber waren sehr nett zu ihr gewesen. Klar gab es Snobs. Aber die meisten Familien waren ihr normal vorgekommen. Die Eltern arbeiteten zu viel und hatten keine Zeit zum Putzen.
    Die Ehefrauen mit ihren manikürten Händen und eleganten Kleidern hatte sie nicht beneidet, aber die Kinder, besonders die Töchter. Die Kinder wurden geliebt, es waren Wunschkinder. Die Mädchen wurden verwöhnt. Ihre Eltern sagten ihnen ständig, wie sehr sie sie lieben würden, wie schön und intelligent sie seien und dass ihnen die Welt offenstehe. Die Mädchen glaubten daran, und so erfüllte sich die Prophezeiung. Emily berührte die Kleider, tätschelte die Puppen und strich die Kissen mit besonderer Sorgfalt glatt. Manchmal fragte

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