Gedenke deiner Taten
sie sich, ob die Liebe der Eltern wie Feenstaub war. Vielleicht blieb ein bisschen davon an ihr kleben.
Vor dem Haus parkten viele Autos. So war es am besten. Dann wurde die Maklerin von den Fragen der anderen Interessenten abgelenkt.
Dean stieg aus und klappte den Sitz nach vorn, damit Emily aus dem Auto klettern konnte.
»Gut siehst du aus«, sagte sie. Es stimmte, er trug gebügelte Chinos und ein leuchtend blaues Oxfordhemd, dazu die rote Seidenkrawatte, die sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Er sollte sie zu Bewerbungsgesprächen tragen, aber dazu war es noch nie gekommen. Er schlug die Autotür zu, und sie gingen zum Haus.
»Danke«, flüsterte er. »Du weißt, dass ich dich brauche.«
»Was will er von dir?«, fragte sie ein zweites Mal.
»Ich schulde ihm Geld.«
»Wie viel?« Emily spürte eine Woge aus Wut und Enttäuschung.
»Frag nicht«, sagte er.
Bevor sie eintraten, sammelte Emily sich für einen Moment. Sie trugen ihre besten Kleider, sie hatte sich bei Dean untergehakt und stellte sich vor, sie wären ein berufstätiges, frisch verheiratetes Paar auf der Suche nach dem perfekten Eigenheim. Ihr Mann hatte einen tollen Job und verdiente einen Haufen Geld. In seiner Firma war er der Star. Sie war schwanger und überlegte, ob sie, wenn das erste von vielen geplanten Kindern einmal da war, überhaupt wieder in den Beruf einstieg. Sie traten über die Schwelle, mit der festen Überzeugung, dass sie sich dieses – oder ein noch besseres – Haus leisten konnten. Sie war eine andere. Was machte sie beruflich? Sie war Lehrerin. Ja, genau. Sie verdiente nicht so viel wie ihr Mann, aber sie liebte ihre Arbeit. Sie ging behutsam mit den kleinen Kinderseelen um, bereitete sie auf ein erfolgreiches Erwachsenenleben vor. Genau genommen hatte sie Pädagogik studiert. Und irgendwann ging sie bestimmt wieder zur Uni.
Die Eingangshalle mit der sehr hohen Decke gefiel Emily am besten. Hohe Räume kündeten von Wohlstand. Wer sich so viel ungenutzten Raum leisten konnte, hatte mehr als genug Geld. Die dramatisch geschwungene Treppe führte zur Galerie im ersten Stock. Emily stellte sich vor, wie sie in einem glamourösen Cocktailkleid die Treppe hinunterschwebte, wo Dean im Smoking auf sie wartete. Die Böden waren aus edlem Parkett. Überall im Haus waren frische weiße Callalilien in hohen Vasen verteilt. Solche Blumenarrangements kosteten ein Vermögen und hielten nur eine Woche. Emily mochte den Duft von Schnittblumen, auch wenn er sie daran erinnerte, dass alles Schöne im Leben vergänglich war. Wer sich jede Woche frische Blumen leisten konnte, die von einem Angestellten ausgetauscht wurden, hatte es geschafft.
Emily und Dean mussten sich nicht absprechen. Sie hatten die Nummer schon oft durchgezogen. Sie machten sich bemerkbar und nahmen sich unaufgefordert einen Grundriss und eine kleine Wasserflasche. Vor dem riesigen Kamin, der von der Küche und dem Esszimmer aus zu sehen war, brach Emily dann in Entzücken aus, während Dean die Aufteilung lobte, sich aber Sorgen über die Kindersicherheit der Galerie machte. Sie bewunderte die hellen Räume und überlegte, wie die Oberlichter zu putzen seien. Er zeigte sich daraufhin enttäuscht, dass es zwar einen Pool, aber keinen Jacuzzi gab.
Ältere Maklerinnen spürten sofort, dass die beiden kein Geld besaßen, vor allem, wenn sie das Auto gesehen hatten. Dann ignorierten sie Emily und Dean oder beäugten sie misstrauisch. Die jüngeren hingegen waren naiv und optimistisch, sie hatten selber nicht viel Geld und wussten nicht, wie sich Reichtum anfühlte. Heute trafen sie auf eine junge Maklerin. Sie war kaum älter als Emily und machte einen unsicheren Eindruck.
Dean fütterte sie mit Fragen. Wann wurde das Haus gebaut? Wer war der Bauträger? Gab es in der Nähe eine Privatschule? Emily stieg die Treppe hinauf. Die meisten Verkäufer schlossen ihre Wertsachen vor einer Besichtigung weg, deswegen lag kaum Schmuck herum. Viele Leute hatten einen Safe, und falls nicht, versteckten sie Wertgegenstände in Kisten und Kommoden. Einmal hatte Emily in einem Nachtschränkchen eine teure Uhr gefunden. Die meisten Hausverkäufer nahmen ihre Fotos von den Wänden, damit die Interessenten sich einen besseren Eindruck verschaffen konnten. So musste Emily wenigstens nicht in die Gesichter der Menschen schauen, die sie bestahl.
In diesem Haus mit den vier Schlafzimmern musste es mindestens drei Bäder geben. Emily interessierte sich nur für das der Eltern.
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