Wurzelbehandlungen, Migräne, Rückenprobleme, Brüche und Prellungen – den meisten Leute wurden starke Schmerzmittel verschrieben. Und die wenigsten nahmen die Tabletten ein, und wenn, dann nicht alle. So blieben in den Medikamentenschränken Fläschchen mit OxyContin und Vicodin zurück. Die Leute vergaßen sie oder wussten nicht, wie man sie umweltgerecht entsorgt. Andere bewahrten die Medikamente für den Notfall auf und verfügten über eine Armee aus orangen Fläschchen mit grünen Deckeln, die sie vor schlaflosen Nächten, unbegründeten Ängsten und plötzlichem Zahnschmerz schützen sollte.
Als Emily noch für den Reinigungsdienst arbeitete, konnte sie ungehindert an die Medikamentenschränke. Sie hatte schnell erkannt, wer was und in welchen Mengen einnahm. Sie überprüfte das Verfallsdatum und zählte Tabletten. In jedem Badezimmer machte sie interessante Entdeckungen … bei Schlaflosigkeit war Ambien beliebt, gegen Panikattacken Ativan. Und dann waren da natürlich noch Prozac, Ritalin, Zoloft, Lithium. Sie zu klauen war nicht so einfach. Wer diese Medikamente verschrieben bekam, nahm sie für gewöhnlich regelmäßig ein und wusste, wie viele Tabletten in einer Packung waren. Und man konnte sich nicht vor dem vom Arzt oder der Krankenversicherung festgesetzten Termin Nachschub holen. Wenn Tabletten verschwanden, musste jemand sie gestohlen haben. Emily hatte die Lektion auf die harte Tour gelernt.
Sie betrat das Schlafzimmer, betrachtete die Bücherregale und ging ins nächste Zimmer mit einer gemütlichen Fernsehecke. Die Stoffe verrieten ihr, wie teuer die Einrichtung war.
Im Badezimmer nebenan bestaunte ein Besucherpaar das Dampfbad und die Marmorfliesen. Emily ließ sich aufs Sofa sinken und tat so, als genieße sie den Ausblick auf die Ahornbäume und die Platanen. Hier saß man, wenn die Kinder im Bett waren. Man trank einen Schluck Wein, schaute aus dem Fenster und entspannte sich, während man sich über den Arbeitstag unterhielt. Die Kinder waren ungezogen, der Chef ein Trottel.
Als das Paar gegangen war, schloss Emily sich im Bad ein. Sie musste sich beeilen; sie hörte Stimmen im zweiten Stock. Das Elternschlafzimmer war eines der wichtigsten Wesensmerkmale eines Hauses.
Anders als als Putzfrau musste Emily hier nicht vorsichtig sein. Damals hatte sie nie mehr als eine oder zwei Tabletten aus jedem Fläschchen genommen. Sie hatte kleine beschriftete Plastikbeutel dabeigehabt, um nichts durcheinanderzubringen. Wenn die Leute wussten, was sie kauften, waren sie bereit, einen höheren Preis zu zahlen, das wusste sie von Dean. Am gefragtesten waren Schmerztabletten und Antidepressiva. Auch ADHS -Medikamente gingen gut. Doch Deans Dealer nahm ihnen alles ab, für »Cocktailpartys«. Dazu kippte man alle Tabletten in eine Schüssel, und jeder Partygast bediente sich auf gut Glück. Bei Jugendlichen waren diese Feiern besonders beliebt. Es war verrückt. Wie konnte man nur eine Tablette einwerfen, ohne die Inhaltsstoffe und Nebenwirkungen zu kennen?
Sie öffnete den Medizinschrank und wühlte in den Verpackungen. Erkältungssaft. Sie griff nach Sudafed, weil man daraus andere Drogen anmischen konnte. Sudafed war immer gefragt. Motrin, Tylenol und Imodium, alles nicht zu gebrauchen. Auf den oberen Regalen waren die verschreibungspflichtigen Medikamente. Bingo. Sie warf keinen zweiten Blick darauf, sondern fegte alles in ihre Handtasche. Sie konnten es später im Auto sortieren. Niemand war in der Nähe, als sie das Badezimmer verließ. Sie ging in die Halle hinunter, wo Dean sich immer noch mit der Maklerin unterhielt.
»Es ist solide gebaut, anders als die Häuser in der Umgebung«, sagte sie gerade. »Manche haben Wände, die sind dünn wie Pappe! Sehr hellhörig. Hier ist das nicht so.«
»Ja«, sagte Dean, »das habe ich gleich bemerkt. Sehr solide Bauweise.«
Sie ließen sich das ganze Haus zeigen, nur so. Dean gefiel das Arbeitszimmer mit dem schweren Eichenschreibtisch und dem ergonomisch geformten Chefsessel. Emily bewunderte das Kinderzimmer mit dem Puppenhaus und dem Himmelbett. Die Maklerin überreichte Dean ihre Karte und bat ihn, sich mit der Mailadresse in die Liste einzutragen, damit sie ihn über zukünftige Angebote auf dem Laufenden halten konnte. Dean schrieb: Mr. und Mrs. Greg Glass,
[email protected] . Emily schaute zufrieden zu; irgendwie bereitete es ihr ein wohliges Gefühl.
Auf dem Weg zum Auto hätte sie Dean beinahe gesagt, was sie auf dem Herzen hatte. Aber