Gedenke deiner Taten
hier aber offenbar ganz wie zu Hause. Emily gab sich selbst die Schuld. Sie erwartete zu wenig von ihm. Sie hatte die Erfahrung gemacht, besser nicht zu viel von anderen zu erwarten.
Kurz nachdem Dean bei ihr eingezogen war, hatte er sie abends mit dem Essen überrascht oder ihr Blumen gekauft. Jeden Tag hoffte sie, dass er, so wie früher, ein paar Aufgaben übernehmen würde – Wäsche waschen, das Geschirr abspülen. Wann hatte er sich eigentlich das letzte Mal um sie bemüht oder Rücksicht auf sie genommen?
Sie machte sich daran, die Unordnung zu beseitigen. Sie konnte das Chaos nicht ertragen, denn es erinnerte sie an ihre Mutter. Nachdem Emily das winzige Häuschen gemietet hatte, hatte sie tatsächlich ein paar schöne Einrichtungsgegenstände aufgetrieben. Nichts Besonderes, aber immerhin. Sie hatte ein gemütliches graues Sofa gekauft und bei Pier One einen passenden rot-grauen Sessel. Wegen eines Risses im Sitzkissen war er stark reduziert worden. Emily hatte das Kissen einfach umgedreht und nicht weiter über den Riss nachgedacht. Für sie musste nicht alles perfekt sein.
Dean hatte ihr einen schönen Teppich geschenkt, der der gesamten Einrichtung eine besondere Note verlieh. Woher er ihn hatte, wagte sie nicht zu fragen. Darauf stand ein altes Holztischchen, das sie auf dem Flohmarkt entdeckt und neu lackiert hatte. Dean hatte Halogenschienen an der Decke installiert. Auf das Wohnzimmer war sie wirklich stolz. Im Schlafzimmer stand ein weißes Bettpodest und eine passende Kommode von Target. Emily hatte die Wände in einem warmen Beige gestrichen und Fotos von sich und Dean aufgehängt. Ihr kleines Haus war sauber und gemütlich. So mochte sie es, das wusste auch Dean. Offenbar war es ihm egal.
»Ich habe da ein Projekt im Auge«, hatte er am Morgen gesagt. »Ein Riesending.«
Wie oft hatte sie das schon gehört? Bei seinem ersten »Projekt«, gerade als der Immobilienmarkt abstürzte, hatte er Häuser ge- und wieder verkauft. Nicht, dass er über die nötigen Mittel verfügt hätte. Dann wollte er am nahegelegenen See Jetski verleihen, konnte aber das Geld für die Ski, die Gewerbeanmeldung und die Versicherung nicht auftreiben. Was es diesmal war, wollte er ihr nicht verraten. So wie beim letzten Mal, als sie ihm ihr Studiengeld gegeben hatte. Das Geld hatte sie natürlich nie wieder gesehen. Und auch sein aktuelles Vorhaben flößte ihr nichts als Unbehagen ein.
Als sie Dean kennenlernte, arbeitete er bei einer Baufirma und verdiente gutes Geld. Für handwerkliche Arbeiten hatte er wirklich Talent. Er hatte einen ehrlichen, fleißigen Eindruck gemacht – solange er motiviert war und sich gerecht behandelt fühlte. Es waren seine Launen, die ihn immer wieder in Schwierigkeiten brachten.
Emily hörte den Wagen in der Einfahrt. Sie ging zum Fenster und sah Dean aus dem alten, verbeulten Mustang aussteigen. Und noch einen anderen Mann, den sie nie zuvor gesehen hatte. Am liebsten hätte sie sofort die Tür verriegelt. Aber sie rührte sich nicht. Sie stand neben dem Fernseher, den Arm voller Wäsche, als die Männer eintraten.
»Ich war im Restaurant«, sagte Dean sofort. Er machte ein reumütiges Gesicht, aber Emily wusste, dass es ihm nicht wirklich leidtat. »Die haben gesagt, du wärst schon gegangen.«
»Du warst zu spät«, sagte sie.
»Du hättest warten sollen.« Auf einmal klang seine Stimme schneidend. So war er immer, wenn Dritte dabei waren. Als hätte er es nötig zu beweisen, wer hier das Sagen hatte. Emily verließ das Wohnzimmer und warf die Wäsche in den Korb in der winzigen Waschkammer. Es war ihr egal, ob der Gast sie für unhöflich hielt. Sie brachte den Müll nach draußen und machte sich an den Abwasch.
Plötzlich stand er hinter ihr.
»Es tut mir leid«, flüsterte er.
Sie schwieg. Nebenan lief der Fernseher. Sie hatten auf irgendein Spiel umgeschaltet, die Menge toste. Emily drehte den Wasserhahn auf, um das Geschirr abzuspülen, bevor sie es in den Geschirrspüler stellte.
»Wer ist das?«, fragte sie, ohne sich umzudrehen.
»Ein Bekannter von früher.«
Sie wusste, was das bedeutete. Sie wirbelte herum.
»Was will er?«
Dean senkte den Blick. Emily sah die sichelförmige Narbe an seinem Auge, wo sein Vater ihn mit der Faust getroffen hatte. Der Ring hatte Deans Gesicht zerschnitten. Damals war er zwölf Jahre alt gewesen. Er roch nach Zigaretten, obwohl er ihr letzte Woche versprochen hatte, mit dem Rauchen aufzuhören. Für Zigaretten hatten sie wahrlich
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