Die Seilschaft
1
«Gelobt sei Jesus Christus», sprach der Priester und schlug das Kreuzzeichen.
«Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen», antwortete die Frau. Sie bekreuzigte sich ebenfalls.
Es war dunkel und stickig in diesem engen Beichtstuhl aus dem vierzehnten Jahrhundert. Könige und Bettler hatten hier ihre Sünden einem barmherzigen Gott gebeichtet, lange bevor die Partei von ihrem gottesfürchtigen Weg abkam und die Hoffnungen ihrer Wähler dem Eigennutz opferte.
Der Knieschemel war hart und ungepolstert. Der bußfertige Sünder sollte spüren, dass Schmerz einer Lossprechung vorausging.
Die Frau ließ ihr Gesicht nicht erkennen. Wie es die Frauen – oder um im Sprachgebrauch des Volkes und des Glaubens zu bleiben –, wie es die Weiber seit jeher taten, hatte sie ihr Haupt mit einem Tuch bedeckt. Es schützte sie vor den neugierigen Blicken der Kirchgänger wie auch des Beichtvaters, sofern er doch einmal in das Gesicht einer Mörderin, Betrügerin oder Ehebrecherin sehen wollte.
Auf den sonst üblichen Bibelvers oder das einleitende Gebet verzichtete er an diesem Tag. Er musste sich ranhalten, es ging auf die Mittagszeit zu, und er hatte seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen.
«Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit.» Er räusperte sich. «Was führt dich zu mir?»
Die Frau wusste um den vorgeschriebenen Ablauf. Sie hielt ihr Haupt gesenkt und ihre Hände gefaltet – äußere Zeichen der wahrhaften Bereitschaft zur Besserung.
«Ich möchte in Demut und Reue meine Sünden bekennen.»
Der Priester nickte zustimmend. Er rückte mit seinem Kopf näher an das kleine Gitter heran, das den Beichtenden vom Beichtvater trennte.
«Welche Sünden hast du begangen?»
«Ich habe die Unwahrheit gesprochen», flüsterte die Frau. «Ich habe geflucht und damit den Namen unseres Herrn beschmutzt.»
Sie hielt inne.
«Waren das alle deine Sünden?», fragte der Priester.
«Ich hatte auch unkeusche Gedanken.»
Wieder stockte sie.
«Sprich weiter. Noch etwas?», forderte er.
«Ich … ich bin sehr zornig gewesen», antwortete sie mit zitternder Stimme. Ihr bisher demütiger Blick ins Dunkel des Beichtstuhls hob sich und überwand das kleine Gitter. «So zornig wie noch nie in meinem Leben zuvor.»
Der Priester bedeutete ihr, leiser zu sprechen.
«Was war der Grund deines Zorns?»
«Diese gottlose Brut», zischte sie, «sie haben den Namen des Herrn entehrt.»
Er schien zu wissen, wer damit gemeint war, und seufzte.
«Was haben sie denn nun wieder getan?»
«Sie geben seinen Namen für den ihren aus und besudeln ihn damit.»
«Werde deutlicher. Was meinst du genau damit?»
Die Frau atmete tief ein, als gelte es, eine lange Liste von Verfehlungen vorzutragen.
«Da ist einer, er hat zu Hause Frau und Kind, und dennochlegt er sich zu einer anderen ins Bett. Jeder weiß davon, aber keiner unternimmt etwas dagegen. Statt ihn aus dem Amt zu jagen, preisen sie ihn als ihren neuen Anführer.»
«Ich habe davon gehört.»
«Ein anderer lügt, betrügt und stiehlt, als gäbe es keine Strafe für ihn. Und tatsächlich: Der Richter lässt ihn ungeschoren davonkommen. Er sagt, die Beweise reichten nicht aus, um ihn zu verurteilen. Dabei liegen sie offen auf der Hand.»
«Ich verstehe gut, was du meinst.»
Sie seufzte. «Diese Welt ist aus den Fugen geraten. Ich erkenne sie nicht wieder, und ich weiß nicht, wie ich mich darin noch zurechtfinden kann. Ehrwürdiger Vater, ich bin ein Kind unseres allmächtigen Herrn, und ich bemühe mich stets, seinen Geboten zu folgen, aber diese Scheinheiligkeit und Dreistigkeit, mit der sie sündigen, ist nicht länger zu ertragen. Ich fürchte, ich werde noch verrückt darüber, wenn ihnen nicht bald Einhalt geboten wird.»
Der Priester nickte. «Der Zorn ist eine große Sünde. Er lässt uns Menschen schreckliche Dinge tun.»
Er hielt kurz inne, besann sich dann eines Besseren.
«Sorge dich nicht länger, denn es gibt da noch einen anderen Zorn. Einen, den der Herr nicht als Sünde sieht. Es ist ein gerechter Zorn, der durch begangenes Unrecht erzeugt worden ist. In den Schriften heißt es dazu, dass man dem Bösen nicht freien Lauf lassen darf. Das Böse zu bekämpfen ist die Aufgabe jedes guten Christenmenschen. Dein gerechter Zorn ist gar ein heiliger, wenn du dich gegen die Missachtung der Gebote unseres Herrn stellst, so wie es Jesus getan hat, als er die Händler aus
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