Gedenke deiner Taten
an.
NEUNZEHN
D er Anblick des Yachthafens versetzte Emily in einen irrationalen Zustand der Euphorie. Sobald sie den Kies unter den Autoreifen knirschen hörte, überkam sie das übermächtige Gefühl, dass nun alles gut werden würde. Sie genoss den Augenblick.
D ean war eingeschlafen. Er hatte den Kopf gegen die Seitenscheibe gelehnt, sein Mund stand offen, und er schnarchte leise. Wie er in dieser Situation schlafen konnte, war ihr ein Rätsel. Als er gefahren war und Emily die Augen schließen wollte, hatte sie jedes Mal das Krachen der Schüsse gehört. Sie konnte Brads widerlichen Annäherungsversuch nicht vergessen, genauso wenig wie den Anblick der blutenden Carol. Sie fragte sich, ob sie jemals wieder schlafen würde.
Vielleicht sollte sie noch eine dieser Tabletten schlucken, die Dean ihr am Vorabend gegeben hatte. Doch wenigstens einer von ihnen sollte einen kühlen Kopf bewahren. Irgendwo hatte Dean einen Geheimvorrat angelegt, aus dem er sich bediente, wann immer er sich unbeobachtet glaubte. Sie sprach ihn nicht darauf an. Was, wenn sein Vorrat zur Neige ging, wenn er während der Flucht Entzugserscheinungen bekam? Darüber dachte sie am besten nicht nach.
Sie hatte seit Stunden keine Nachrichten mehr gehört. Im Abendmagazin war weder von dem Überfall noch von ihrer Flucht die Rede gewesen. Eine geschlagene Stunde lang hatte sie dem Moderator gelauscht. Ein entführtes Flugzeug wurde von Kampfjets begleitet. Ein Terroranschlag war vereitelt worden. Zwei Männer standen vor Gericht, weil sie eine Familie ermordet hatten. Bei den Kongresswahlen hatten die Demokraten die Mehrheit im Senat verloren. Nichts über einen bewaffneten Raubüberfall in New Jersey, über den Toten und die Schwerverletzte und die flüchtigen Täter. Emily stellte sich vor, dass nichts vorgefallen war. Oder dass der Überfall im Vergleich zu anderen Gräueltaten zu harmlos war, um in den Nachrichten Erwähnung zu finden.
»Das sollten Sie lieber nicht tun.«
Als sie den SUV in eine Lücke am hintersten Ende des Parkplatzes manövrierte, hatte Emily wieder den Satz des Mannes im Ohr. Er hatte ihr ins Gesicht gesehen, als wüsste er alles über sie. Dann fasste er sich ans Kinn, wie um ihre Schmerzen nachzuempfinden. Seine Miene verriet ihr, dass er in seinem Leben schon viele Mädchen wie sie gesehen hatte, traurige, bemitleidenswerte Geschöpfe, die sich ihre Zukunft kaputtgemacht hatten.
Er hatte angehalten, als sie winkend auf der Straße stand. Zuerst konnte sie ihn nicht erkennen, weil das Scheinwerferlicht des großen Autos sie blendete. Als sie sich der Fahrerseite näherte, sah sie einen großen Mann mit breiten Schultern am Steuer sitzen. Er betrachtete sie mit gelassener Neugier, musterte den verlassenen Mustang und die menschenleere Straße. Er war clever.
Er ließ die Scheibe herunter.
»Panne?«, fragte er, ohne die Hände vom Steuer zu nehmen. Der Ehering saß sehr eng an seinem Finger. Am Armaturenbrett klebten Fotos von einer hübschen Frau und einem jungen Mann. Der Junge sah aus wie eine jüngere, schlankere Version des Autofahrers. Emily brachte kein Wort heraus. Sie starrte ihm ins Gesicht, als untersuche sie seine Falten und die grauen Strähnen in seinem hellbraunen Haar.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte der Mann. Emily hatte vergessen, dass ihr Kiefer nach Brads Schlag blau und geschwollen war. »Ist Ihnen etwas passiert?«
Sie sah Dean mit gezogener Waffe hinter dem Beifahrerfenster auftauchen. Er klopfte mit dem Lauf an die Scheibe, und der Mann am Steuer drehte langsam den Kopf. Er blieb ganz ruhig, kniff nur leicht die Augen zusammen. Er drehte sich wieder zu Emily um und fragte in leicht amüsiertem Tonfall:
»Was soll das?«
»Aussteigen!«, rief Dean.
Durch die Glasscheibe klang seine Stimme dünn, wie die eines Jungen, der Räuber und Gendarm spielt. Der Mann hinter dem Steuer gab sich unbeeindruckt. Warum blieb er so gelassen? Es gab nur eine Erklärung, er war Polizist, oder er hatte irgendetwas mit dem Militär zu tun. Im Blue Hen hatte Emily Stammgäste wie ihn gehabt. Es hatte ihr gefallen, dass diese Männer mehr zu verstehen und zu wissen schienen als die Normalbürger. Sie hatten verrückte Geschichten zu erzählen, dem Tod ins Auge geblickt und Aspekte des Daseins kennengelernt, die den meisten Menschen verborgen blieben. Dieser Mann war erfahren und souverän.
Emily stellte sich vor das Auto. Nie im Leben würde er sie über den Haufen fahren. Er folgte ihr mit ruhigem,
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