Gedenke deiner Taten
jeder an seiner eigenen, persönlichen Geschichte. Damit gehörte sie jedem von uns auf eine bestimmte Weise. Als es an der Zeit war, sie zu teilen, konnten wir es nicht. Jeder hielt sich für den König, die Königin dieser Insel, und in der Erinnerung hatten unsere Geschwister höchstens eine Nebenrolle gespielt. Jeder von uns träumte davon, Heart Island eines Tages ganz für sich allein zu haben. Nur eine bekam, was sie wollte.
Aus dem Tagebuch
von Caroline Love Heart (1940–2000)
ZWANZIG
U nd so vertraute sie mir Dinge an, die sie mit niemandem sonst teilen konnte. Ihre Affäre, die dunklen Zeiten. Natürlich wartete sie, bis Daddy von uns gegangen war. Meine Mutter und ich wussten, dass sie ihn aus vielen guten Gründen geheiratet hatte – aufgrund seiner Position, seines Familiensinns, und sie verband eine Freundschaft. Aber keine leidenschaftliche Liebe. Damals, erzählte sie, war die Liebe bei einer Eheschließung nicht das Wichtigste. In ihrem ganzen Leben hatte sie nur einen Mann wirklich geliebt, und ihn zu heiraten war unmöglich. »Affäre« ist ein viel zu billiges Wort, das nicht zu beschreiben vermag, was meine Mutter und Richard Cameron verband.
Nun sind sie alle nicht mehr, und nur ich kenne die Wahrheit. Und du, Kate, sollst sie ebenfalls erfahren. Ich hoffe, dir damit keine zu schwere Last aufzubürden. Ich weiß, dass du niemanden verurteilen wirst, denn so wie ich hast du das Herz einer Dichterin. Du siehst alles. Es ist seltsam, die Zeit schreitet unaufhaltsam voran, und selbst die wichtigsten Ereignisse verlieren an Bedeutung. Wenn du das liest, sind wir alle gestorben. In einer anderen Zeit war unser Leben erfüllt von Schmerz und seelischen Verwundungen, Liebe und Trauer. Und nun ist die Vergangenheit nicht mehr als ein blasser Traum. Ein schrecklicher, schöner Traum.
Die Tagebücher hatten zwei Jahre in einer Kiste im Schrank gelegen, bevor Kate sie fand. Nach Carolines Tod hatten Kate und Theo den Hausstand der Tante aufgelöst. Kate hatte die mit ihrem Namen beschriftete Kiste gefunden und mitgenommen. Sie konnte den Gedanken, einen Blick hineinzuwerfen, nicht ertragen. Caroline hatte ihr Geld, ihre Möbel und sogar das kleine Apartment in Manhattan Kate und Theo vermacht, was ihre Mutter unerklärlicherweise in Rage brachte.
»Nicht einmal ein winziges Schmuckstück hat sie ihrer Schwester hinterlassen«, hatte Birdie sich beklagt. Birdie besaß alles, was man für Geld kaufen konnte, und rümpfte die Nase, wenn jemand wagte, ihr ein Geschenk zu machen. Deshalb beschenkte niemand sie mehr, vor allem nicht Caroline.
Während Carolines letzten Tagen hatte Birdie oft an ihrem Bett gesessen und ihr aus einem Lieblingsbuch aus Kindertagen vorgelesen, Rebecca auf der Sunny Brook Farm . Als Kate sah, wie ihre Mutter hingebungsvoll der sterbenden Schwester vorlas, entdeckte sie zum ersten Mal eine Zärtlichkeit, die sie Birdie nie zugetraut hätte. Birdie war sich nicht einmal zu schade, die Hand ihrer Schwester zu halten. Als beide noch bei guter Gesundheit gewesen waren, hatte kein Treffen länger als eine Stunde gedauert; immer war eine von ihnen wütend aus dem Zimmer gestürmt und hatte die Familie in betretenem Schweigen zurückgelassen. Ständig war die eine beleidigt gewesen wegen etwas, das die andere angeblich getan oder unterlassen hatte. Erst als Caroline nach langer Krankheit auf dem Sterbebett lag, hielten die Schwestern es in einem Zimmer aus, ohne sich in die Haare zu geraten. Caroline bekam Schmerzmittel und nahm ihre Umgebung kaum noch wahr.
»Mom«, hatte Kate gesagt, weil sie wie immer die Wogen glätten wollte, »du kannst aus der Wohnung haben, was du willst.«
Caroline hatte eine ganze Kommode nur für Accessoires besessen, teils wertvolle Stücke, teils Modeschmuck. Alles klobige, funkelnde Schmuckstücke, die überhaupt nicht Birdies Geschmack entsprachen.
»Darum geht es doch gar nicht«, antwortete Birdie. Für einen Augenblick klang sie beinahe traurig. Aber dann keifte sie ins Telefon: »Mit den vielen Klunkern hat sie wie eine Zigeunerin ausgesehen. Und dazu noch diese langen Röcke und albernen Schals. Sie hätte im Zirkus auftreten können.«
Wie konnte Birdie vor Wut schäumen, wenn ihre Tochter aufrichtig trauerte? Kate war ratlos. Birdie schaffte es, selbst den Tod der Schwester als Affront gegen ihre Person aufzufassen. Hatte sie ihre Schwester nur im Krankenhaus besucht, weil sie der Meinung war, es gehöre sich so? Oder hatte sie sich
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