Gedenke deiner Taten
vermeiden. Er hatte begriffen, dass sie und Dean unberechenbar waren und man sie am besten ignorierte, bis sie verschwunden waren. Sie stieg ins Auto. Drinnen war es warm, der Sitz flauschig weich. Es war gemütlich. In einem schöneren Auto hatte sie wohl nie gesessen. Alles war sauber und glänzte, die Anzeigen im Armaturenbrett schimmerten rot, grün und weiß. Dean stieg ein, hielt aber die Waffe durchs geöffnete Fenster weiterhin auf den Mann gerichtet. So würde er nicht einmal ein Scheunentor treffen, war ihm das klar? Er war nicht nur ein schlechter Mensch, er war dazu noch ein Idiot. Sie entkamen nur deswegen, weil der Mann sie ziehen ließ.
»Gib mir die Pistole«, sagte sie.
Dean gehorchte, und Emily steckte die Waffe unter den Sitz. Dean verriegelte den Innenraum und legte die Hände ans Steuer. Der Mann trat an den Straßenrand, um sie vorbeizulassen, und Dean trat das Gaspedal durch. Emily sah den Mann im Seitenspiegel kleiner werden, und dann war er verschwunden. Wie kam er wohl nach Hause? Vor ihm lag ein langer Fußmarsch; hier draußen sagten sich Fuchs und Hase gute Nacht.
»Wir hätten ihn umlegen sollen«, sagte Dean. Er klang wütend, so als sei es allein ihre Schuld, dass der Mann noch lebte. Vielleicht stimmte das sogar. Etwas in der Art hatte sie dem Mann antworten wollen. Ja, es gab schlechte Menschen und gute, die sich aus unerfindlichen Gründen auf die schlechten einließen. Aber wäre nicht auch denkbar, dass ein guter Mensch einem schlechten hilft? Wenn sie nicht bei Dean geblieben wäre, hätte er vielleicht noch viel schlimmere Dinge getan. Dann wäre dieser Mann jetzt womöglich tot.
»Er kann uns beschreiben«, sagte Dean, »und dann kommen sie uns auf die Spur.«
»So schnell wird er niemandem begegnen.«
»Solange nicht jemand anhält.«
»Heutzutage hält niemand mehr an.«
»Doch, er«, sagte Dean.
»Nicht, wenn ein Mann allein unterwegs ist.«
Emily war froh, dass Dean nicht den Mumm hatte, auf einen Unschuldigen zu schießen. Im Blue Hen hatte nur Brad geschossen. Wenigstens konnte man Dean nicht vorwerfen, ein Mörder und Vergewaltiger zu sein.
Sie musste an Brad denken. Sie wollte das Radio einschalten, um die Nachrichten zu hören, aber Dean hielt ihre Hand fest. Seine langen schlanken Finger waren kalt und trocken.
»Warte kurz«, sagte er. Eigentlich wollte sie es selbst nicht wissen, wie es Carol ging oder ob man Brad gefunden hatte. Sie wollte nicht wissen, wie weit die Ermittler gekommen waren und ob nach dem Mustang gefahndet wurde. Vielleicht war es besser, die Wahrheit so spät wie möglich zu erfahren.
Sie öffnete das Handschuhfach, durchwühlte die ordentlich darin verstauten Papiere und fand die Kfz-Zulassung. Jones Cooper – ein integrer Name. So hieß nur jemand, der sich in seinem Leben nichts hatte zuschulden kommen lassen. Ganz hinten lag ein Lederetui. Emily machte es auf und entdeckte eine goldene Polizeimarke. An der Stelle der Dienstnummer waren die Worte »im Ruhestand« eingraviert. Emily klappte das Etui zu und legte es zurück.
»Was ist das?« Seit sie im Auto saßen, schien Dean sich wieder beruhigt zu haben. Vielleicht hatte er aber wieder eine Tablette geschluckt, wer wusste das schon. Sie wollte ihn auf keinen Fall aufregen.
»Nichts«, sagte sie und klappte das Fach zu. »Unterlagen – Quittungen und so.«
Schweigend starrte Dean geradeaus.
»Schalt das Radio ein«, sagte er. Emily gehorchte.
Erstaunlicherweise hatte Dean daran gedacht, das Navi aus dem Mustang mitzunehmen. Den Weg zum Yachthafen zu finden war kinderleicht. Es war fast Mitternacht und totenstill. Auf dem Parkplatz standen nur wenige Autos. Ende August waren die meisten Feriengäste schon wieder abgereist. Daran konnte Emily sich noch erinnern. Die Luft war frisch, das Wasser nicht mehr so warm. Im Winter war diese Gegend praktisch unbewohnt. Sie würden noch mehr Lebensmittel brauchen. Sie mussten irgendwie durch den Winter kommen. Emily hatte nicht riskieren wollen, bei einem Zwischenstopp erkannt zu werden. Auf einmal war sie wie gelähmt. Sie hatte sich keine weiteren Gedanken gemacht, wie es weitergehen sollte, wenn sie den Yachthafen erreicht hatten.
»Ist es das? Sind wir da?«, fragte Dean. Er setzte sich auf und schaute sich um.
»Ja«, sagte sie, »wir sind da.«
Nun mussten sie nur noch ein Boot finden, das sie nach Heart Island brachte.
ZWEITER TEIL
Heart Island
Die Insel war wie ein Traumgespinst, für jeden von uns. In Gedanken schrieb
Weitere Kostenlose Bücher