Gedenke deiner Taten
aufmerksamem Blick.
»Wir wollen niemanden verletzen«, sagte sie mit fremder Stimme. Die Frau, die da sprach, kannte und mochte sie nicht. »Wir brauchen nur Ihr Auto.«
Der Mann schien zu überlegen. Dann öffnete er die Fahrertür und stieg aus. Er trug ein Holzfällerhemd und Jeans, dazu robuste braune Schuhe. Aus seiner Hosentasche ragten Arbeitshandschuhe. Er sah stark und ungefährlich aus, wie ein guter Mensch. Emily wollte sich in seine Arme werfen, er sollte sie ins Gefängnis bringen, denn da gehörte sie hin. Plötzlich sagte er:
»Das sollten Sie lieber nicht tun.«
»Nein«, sagte Emily mit erstickter Stimme, »es tut mir leid.«
»Halt die Klappe«, sagte Dean.
»Manche Menschen taugen nichts«, sagte der Mann sanft. »Und andere haben sich unter unglücklichen Umständen mit diesen Versagern eingelassen.«
»Halt’s Maul, Alter«, sagte Dean. Er kam um den Wagen herum; die Pistole in seiner Hand zitterte. Er schob sich an Emily vorbei und trat an die Fahrertür.
»Zu welcher Sorte gehöre ich?«, fragte Emily unwillkürlich. Dean warf ihr einen bösen Blick zu.
»Verraten Sie es mir.«
»Geben Sie mir Ihr Handy«, sagte Dean und fuchtelte mit der Waffe.
Der Mann griff in seine Hosentasche und gab Dean sein altes, aufklappbares Handy. Dean ließ es fallen und zermalmte es unter seinem Stiefelabsatz.
Die meisten Menschen hätten an dieser Stelle Emotionen gezeigt … Ärger, Angst. Oder sie hätten zu betteln angefangen. Dieser Mann blieb ruhig und wachsam.
»Ich weiß ja nicht, wovor ihr davonlauft«, sagte er. Emily wusste, dass er mit ihr sprach. Dean hatte er nur flüchtig gemustert und als hoffnungslosen Fall abgestempelt. Das hatte sie genau gesehen, als Dean um den Wagen herumgegangen war. Obwohl Dean bewaffnet war, würdigte ihn der Mann keines Blickes mehr. »Was immer der Grund ist, ihr werdet nicht weit kommen.«
»Einsteigen«, sagte Dean. Er hatte angefangen zu schwitzen, wurde fahrig, trat von einem Bein aufs andere. Nur deswegen ging Emily zur Beifahrertür. Sie war ein wenig enttäuscht, dass der Mann nicht mehr Widerstand leistete. Sie dachte an Carol und an Angelo, der den Revolver genommen hatte. Unser Leben ist viel wertvoller und deren Leben auch. Carol hatte Recht. Nichts auf der Welt, kein Besitz, keine Geldsumme war so viel wert wie ein Menschenleben. Nachdem sie ihr Leben verspielt hatte, machte dieser Satz für Emily endlich Sinn. Sie hatte immer geglaubt, nicht viel verlieren zu können, aber jetzt wünschte sie sich nichts sehnlicher, als die Zeit zurückzudrehen und da wieder anzuknüpfen, wo sie auf eine bessere Zukunft gehofft hatte. Dieser Mann würde sich nicht um ein Auto streiten, wenn zu Hause Frau und Kind auf ihn warteten. Er wusste, worauf es wirklich ankam.
»Wollt ihr das wirklich tun?«, fragte er.
Emily zögerte.
»Was zum Teufel ist denn mit dir los?«, schrie Dean. »Steig ein!«
Es musste an ihr liegen, dass ihr jedermann ständig ungebeten Ratschläge erteilte. Vielleicht lag es an ihrem Alter oder an ihrer zierlichen Figur, sie hatte Kleidergröße 34. Alle hielten sie für hilfsbedürftig, dabei war sie der Meinung, ihr Leben gut zu meistern. Immerhin hatte sie diesen Mann zum Anhalten bewegt, und gleich würde sie mit seinem Auto davonfahren.
»Sie kennen mich doch gar nicht«, sagte sie. Es stimmte. Niemand kannte sie. Bis gestern hatte sie selbst nicht gewusst, wozu sie imstande war. Vielleicht hatte Brad sie doch richtig eingeschätzt.
»Wieso redest du überhaupt mit dem?«, fragte Dean und hielt keuchend die Pistole in die Höhe.
Der Mann senkte den Kopf und steckte die Hände in die Hosentaschen.
»Hände stillhalten!«, rief Dean. Er klang schrill, und aus reiner Nervosität wäre Emily fast in Gelächter ausgebrochen. Aber Dean konnte es nicht ertragen, ausgelacht zu werden. Er würde auf den Abzug drücken, nur um sie zum Schweigen zu bringen. Emily schloss die Augen. Sie wollte nicht sehen, was als Nächstes passierte. Wie konnte man sich in einem Moment so stark fühlen und im nächsten so ohnmächtig? Wie konnte einem das ganze Leben innerhalb von vierundzwanzig Stunden entgleiten? Sie lehnte den Kopf an die Beifahrertür. An diesem Punkt würde alles eskalieren. Sie machte sich auf den Schuss gefasst.
»Ist schon okay«, sagte der Mann. Emily atmete wieder. »Nehmt das Auto. Ich werde einfach hier stehen bleiben.«
Als sie die Augen wieder öffnete, starrte der Mann auf seine Schuhe, wie um jeden Blickkontakt zu
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