Gefaehrlich begabt
Stimme. Er besah sich bereits Marlas Schulter.
»Ich bin aus dem vierten Stock von einem Dach gesprungen«, entgegnete Marla trocken.
Ungläubig riss der Pfarrer die Augen auf. Er stellte keine weiteren Fragen, das war gut. Vermutlich wollte er die Antworten gar nicht erst hören. Er untersuchte Marla und tastete Anna ab. Dann besah er sich Sebastian. Sein magisches Heilfleisch regenerierte sich seltsamerweise nur langsam, bestimmt, weil seine Wunden von Flüchen stammten.
Zuerst wandte er sich Marla zu. »Ihr Schlüsselbein ist gebrochen und ich fürchte auch zwei Rippen. Sie drücken auf ihre Lunge, oder?«
Sie nickte.
»Sie müssen aufpassen, dass sich nicht ein Knochensplitter hindurchbohrt.«
Er lächelte Anna zu. »Du scheinst nicht viel abbekommen zu haben. Ein paar Schürfwunden, nichts Schlimmes. Dein Freund hat sich das Becken gebrochen. Ist die Verletzung älter?«
Das bedeutete, dass seine Knochen doch heilten. Zum Glück. Sebastian nickte sicherheitshalber. Keine gute Idee, mit der Wahrheit rauszurücken.
»Ich werde Ihnen ein paar Salben mischen und einen Tee kochen. Danach müssen Sie sich vierundzwanzig Stunden Ruhe gönnen und schlafen. Verstanden?«
»Verstanden«, antwortete Marla für alle.
Der Tee, den ihnen der Heiler wenige Minuten später servierte, schmeckte bitter wie Gallenflüssigkeit. Aber Anna hatte solch ein Bedürfnis nach Flüssigkeit, dass es sie nicht davon abhielt, die heiße Brühe in einem Schluck hinunterzuwürgen. Marla und Sebastian ging es ähnlich. Marla schmierte sich bereits Salbe auf Schulter und Brust. Der Schmerz wich bereits während des Vorgangs aus ihren Gesichtszügen. Sie bedeckte die Kratzer an Händen und Gesicht mit einer dicken Salbenschicht.
Sebastian steckte sein Döschen unbemerkt in die Tasche. Falls der Pfarrer etwas Seltsames an ihnen entdeckte, verschleierte er es gut. Er wirkte eher besorgt als verwundert.
»Wenn es morgen nicht besser ist, kommt wieder«, sagte er mit freundlicher Stimme.
Der höfliche Satz war dennoch ein Rausschmiss. Marla konnte schon wieder aufrecht gehen. Sie verabschiedeten sich und verschwanden durch die schwere Kirchentür nach draußen.
»Wir suchen uns ein Hotel«, bestimmte Sebastian.
Sie hatte nichts dagegen. In einem Hotel gab es Betten und Betten waren jetzt alles, was sie brauchten.
43. Kapitel
Auf und Davon
D ie Pension, in der sie um diese Zeit noch ein Zimmer ergatterten, galt so ziemlich als die letzte Absteige. Das Zimmer war düster und kotzgrün. Das alte Bett sah aus, als hätten schon viele Gäste darin genächtigt. Zumindest hatte das Personal es frisch bezogen – wenn auch mit der hässlichsten Bettwäsche, die Anna je gesehen hatte.
Sie schälte sich aus der Kleidung und ließ heißes Wasser über ihren Schädel laufen. Der Abfluss des schäbigen Waschbeckens gluckerte laut. Ein Blick in den Spiegel bewies, dass die Schnitte im Gesicht verheilten. An den Händen konnte sie die Verletzungen kaum noch ausmachen. Sicherheitshalber trug sie nach der Katzenwäsche noch einmal Salbe auf. Mit nassen Haaren und in Unterwäsche schlüpfte sie unter die Decke des Doppelbettes. Marla lag bereits im Bett, sie sah schon besser aus. Sebastian hatte den Sessel in Beschlag genommen und schien in Gedanken versunken. Er starrte auf ein Brandloch in dem dreckigen Läufer.
»Was ist passiert? Was ist mit Josh?«, fragte Anna. Die Frage brannte ihr schon die ganze Zeit auf der Seele. Sie wollte Antworten.
»Abgehauen. Ich bin ihm nicht gewachsen, er hat Kiras Talente.«
Anna fuhr sich mit den Fingerspitzen durch die nassen Haare, um sie zu kämmen. Ein passender Kommentar fiel ihr nicht ein. Josh lebte also. Was hieß das für sie?
»Wir sollten schlafen und morgen überlegen, wie es weitergeht. Für den Moment brauchen wir alle erst einmal Ruhe«, sagte Sebastian und hob endlich den Blick.
Anna nickte. Ihre Augenlider waren so schwer, dass sie sie ohnehin nicht länger aufhalten konnte. Jeder Muskel tat ihr weh und ein pochender Schmerz zog sich von den Schläfen aus durch den gesamten Schädel.
Marla machte sich lang und drehte sich auf die unverletzte Seite. Es hatte ihr offensichtlich die Sprache verschlagen. Ein sehr schlechtes Zeichen. Anna zog die Decke ein Stück höher, sie fröstelte. Die Wärme des überhitzten Zimmers drang nicht bis zu den Knochen vor. In ihnen schlummerten Angst und Kälte. Obwohl ihr tausend Dinge durch den Kopf geisterten, verlangte ihr Körper seine wohlverdiente
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