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Gefährliche Begierde

Gefährliche Begierde

Titel: Gefährliche Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Szenario vorstellen. Es fiel ihm sogar leicht, sich die Frau auszumalen, eine Frau wie alle anderen in Richards Leben. Sie war von einer natürlichen Attraktivität. Darauf hatte sein Bruder bestimmt geachtet. Doch da gab es sicher auch einen Haken an der Sache, etwas, das mit ihr nicht stimmte. Vielleicht war ihr Lachen zu laut oder ihr Lächeln zu künstlich oder die Fältchen um ihre Augen verrieten, dass es sich um eine Frau handelte, die kurz vor dem Verblühen war. Ja, er konnte sich ein klares Bild von ihr machen. Ein Bild, das gleichzeitig Mitleid und Ablehnung in ihm hervorrief. Und Wut. Egal, wie groß seine eigene Abneigung gegenüber Richard war, es änderte nichts daran, dass sie immerhin Brüder waren. Sie teilten dieselben Erinnerungen an Nachmittage im Meer, Spaziergänge an der Hafenmole, Streifzüge in der Nacht. Ihr letzter Streit war sehr heftig gewesen, aber Chase hatte immer im Hinterkopf behalten, dass sie ihn beilegen konnten. Da war noch Zeit dafür gewesen, die Dinge ins rechte Licht zu rücken, um wieder Freunde zu sein. Das hatte er gedacht, bis Evelyns Anruf kam. Sein Ärger wuchs und überflutete ihn wie die Springtide bei Vollmond. Eine verlorene Chance. Keine Möglichkeit mehr, ihm zu sagen: Ich mag dich. Nie wieder: Weißt du noch? Die Straße verschwamm vor seinen Augen. Er blinzelte und klammerte sich ans Lenkrad. So fuhr er weiter in den Morgen hinein.
    Gegen zehn hatte er Bass Harbour erreicht. Um elf war er an Bord der Jenny B. Sein Gesicht im Wind, umklammerte er die Reling der Fähre. In der Ferne erschien Shephard’s Island als niedriger grüner Hügel im Nebel. Jenny B.’s Bug hob sich über den Wellenkamm, und Chase fühlte die ihm bekannte Übelkeit aus dem Magen aufsteigen, und den bitteren Geschmack in seinem Mund. Seekrank, wie immer, dachte er. In einer Familie von Seglern war Chase die Landratte, derjenige, der festen Boden unter den Füssen bevorzugte. Die Regattatrophäen gingen alle an Richard. Egal in welcher Bootsklasse, ob Katamaran oder Sloop, Richard gewann alles. Und das hier war das Gewässer, in dem er seine Fähigkeiten trainiert hatte, wenden, halsen, Segelwechsel, Befehle brüllen. Spinnacker hoch, Spinnacker runter. Für Chase war das alles ein Haufen Unsinn und dann immer diese schreckliche Übelkeit …
    Chase inhalierte eine ordentliche Brise salziger Meeresluft und bemerkte, wie sich sein Magen beruhigte, als Jenny B. an der Pier anlegte. Er kehrte zu seinem Wagen zurück und wartete, bis die Reihe an ihm war, seinen Wagen die Rampe hinunter zu fahren. Es waren acht Wagen vor ihm dran. Jeder von ihnen mit einem Nummernschild von außerhalb. Halb Massachusetts schien im Sommer nach Norden unterwegs zu sein. Man konnte fast schon hören, wie Maine unter dem Gewicht dieser verdammten Karossen ächzte.
    Der Fährmann winkte ihn heraus. Chase legte den Gang ein und fuhr über die Rampe auf Shephard’s Island.
    Es begeisterte ihn, wie wenig sich der Ort in all den Jahren verändert hatte. Dieselben alten Gebäudefassaden mit Blick zur See: die Insel-Bäckerei, die Bank, Fitz Gerald’s Café, der Billige Jakob, Lappin’s Kaufhaus. Ein paar neue Namen tauchten an alten Plätzen auf. Der Vogue Schönheitssalon hieß jetzt Gordon’s Buchhandlung. Country Antiquitäten und ein Immobilienbüro ersetzten den alten Haushaltswarenladen. Gott, welche Veränderungen der Tourismus doch mit sich brachte. Er bog um die Ecke und fuhr die Limmerick Street hinauf. Auf der linken Seite befand sich immer noch im selben geklinkerten Gebäude der Island Herald. Er fragte sich, ob sich im Inneren irgend etwas verändert hatte. Chase konnte sich noch gut an alles erinnern: die dekorative Blechdecke, die ramponierten Tische, die Porträts der Verleger an den Wänden; jeder von ihnen ein Tremain. Er sah alles genau vor sich, bis hin zur Remington Schreibmaschine auf dem alten Schreibtisch seines Vaters. Natürlich war die Zeit der Remingtons lange vorbei. Jetzt gab es überall Computer, elegant, effizient und unpersönlich. So jedenfalls hatte Richard die Zeitung geleitet. Weg mit den alten Sachen und her mit den neuen.
    Her mit dem nächsten Tremain.
    Chase gab Gas und fuhr den Chestnut Hill hinauf. Nach einem halben Kilometer erreichte er den höchsten Punkt der Insel, von dem aus er das Anwesen der Tremains sehen konnte, das ihn wegen der viktorianischen ingwerplätzchenfarbenen Türmchen immer an eine monströse Hochzeitstorte erinnert hatte. Das Haus war inzwischen in

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