Gefaehrliche Gefuehle
kurzem Zögern nahm sie sie an. Mir war Lukas völlig egal. Es ging mir nur darum, dass Silvy einmal gezwungen wäre, die Wahrheit zu sagen.
Und um selbst die Wahrheit zu sagen: Ich wollte nur noch eines – nach Hause. Ich hatte die Nase voll von Silvy und ihrem falschem Getue. Aber meine Eltern wurden gerade mit Dr. Kern und dem Chefarzt des Krankenhauses fotografiert. »Guck mal«, sagte ich. »Marie macht sich an David ran!«
Silvy verzog grimmig den Mund und steuerte sofort auf die beiden zu. Das gab mir die Möglichkeit für einen Knutschquickie! Ich lief auf Enzo zu, der immer noch an dem Stehtisch am Eingang stand. Er betrachtete mich scheinbar ungerührt.
»Los, komm mit«, raunte ich ihm im Vorbeigehen zu.
»Wohin?«, fragt er verwundert, aber ich antwortete nicht, sondern ging hinaus, durchs Foyer, durch die Eingangstür, auf den Parkplatz bis ans Ende, wo der Rasen anfing und ein steinerner Weg nach hinten zum Pool führte. Schummrige Leuchten säumten den Weg, aber die Wiese lag im Dunkeln, genau wie dieser hintere Teil des Gebäudes. Hier waren wir ungestört! Im Schatten einer Tanne drehte ich mich um. Ich sah Enzo, wie er mir langsam folgte. Ich ging noch ein paar Schritte näher an die hohe Tanne und wartete. Mein Atem formte weiße Wölkchen, es war bitterkalt und ich hatte meinen Mantel nicht an. Lange würde ich das nicht aushalten, sonst wäre ich ein Calippo. »Enzo, hier!«, rief ich flüsternd, als er kam.
»Natascha«, zischte er. »Was machst du denn hier?«
Ich zog ihn an mich und streckte meine Arme unter sein Jackett und kuschelte mich an ihn. »Mich aufwärmen.«
»Natascha. Nicht!«
»Ach, hier kann uns doch keiner sehen«, beruhigte ich ihn. »Die Tanne verdeckt uns.«
»Das ist eine Zypresse«, brummte er. »Und sie verdeckt uns im Grunde genommen überhaupt nicht …« Er versuchte, sich sanft loszumachen.
»Mir ist kalt«, sagte ich. »Und ich vermisse dich.« Ich küsste ihn, aber er wich zurück. »Das geht nicht«, sagte er ärgerlich. »Wir könnten jederzeit entdeckt werden!«
»Ach was«, sagte ich. »Und wenn, dann sage ich, dass du mich retten musstest!« Ich gab ihm noch einen Kuss und er entspannte sich für eine Sekunde und küsste mich zurück. Dann löste ich mich, sah ihm in seine Augen und sagte: »Am Wochenende sage ich es meinen Eltern, okay?«
»Versprochen?«
»Ja, versprochen.«
Wir gingen brav getrennt zurück in die Villa. Bevor ich reinging, sah ich, dass Justus’ Wagen Mister Schrott immer noch dastand. Doch drinnen behaupteten jedoch alle, er wäre schon gefahren. Und wenn ich geahnt hätte, was später passieren würde, hätte ich mir mehr Mühe gemacht herauszufinden, warum.
11
I ch konnte nur verschwommen sehen. Die Luft roch nach einer Mischung aus Chemie und muffigen Mottenkugeln. Jede meiner Bewegungen wurde von dem Stoff, der mich umgab, gebremst. Mein Atem kondensierte an der Glocke aus Polyester um mich herum und legte sich wie ein feuchter Film auf mein Gesicht. Ich versuchte, nicht in Panik zu geraten, sondern langsamer zu atmen. Es klopfte.
»Herein«, rief ich und meine Stimme klang lauter als sonst, vermutlich weil mein Kopf unter diesem Ding steckte.
»Kann ich Ihnen helfen?« Enzo blieb erstaunt in der Tür stehen.
»Mach die Tür zu«, herrschte ich ihn an. »Bevor mich meine Mutter in dem Aufzug sieht.«
»Natascha?«, fragte Enzo.
»Wer denn sonst? Al Kaida?« Ich hatte ihn eben von hier oben angerufen und ihm gesagt, dass er mich abholen sollte, um mich zu den Boussaidis zu fahren. Das hatte ich ihm schon angekündigt, als er mich von der Schule abgeholt hatte. Es gab also wirklich gar keinen Grund für so einen Aufstand.
»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?« Er schüttelte entgeistert den Kopf.
»Wieso denn?«, fragte ich entrüstet. »Ich muss mich doch tarnen, wenn ich Azizas Familie besuche!«
»Mit … einer Burka?« Enzos Fassungslosigkeit wich einer völlig unangebrachten Heiterkeit und ich sah auch durch das Gitter vor meinen Augen, dass er kurz davor war, sich vor Lachen auszuschütten.
»Mit was denn sonst?«, gab ich spitz zurück. »In einem Clownskostüm?«
Ich hatte wirklich gedacht, dass er beeindruckt wäre von meiner Idee, Familie Boussaidi in einer Burka aufzusuchen. Gut, rein modisch gesehen war das Teil, das mir der Expresslieferservice heute zugestellt hatte, eine Katastrophe, Einheitsgröße, Farbton Kamel, 100% Polyester. Aber es war doch nun mal die einzige Möglichkeit, bei einer
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