Gefährliche Ideen
vergängliche Erscheinung der Weltgeschichte, sei die unternehmerischste Gesellschaft aller Zeiten gewesen. Wie kamen wir auf eine so kontroverse Behauptung? Natürlich war Unternehmertum in traditionellem Sinne verboten – neben vielem anderen –, dennoch fand sich in dieser eigenartigen Gesellschaft außerordentlich viel Bereitschaft zu individueller Chancensuche. Unsere Behauptung ließ sich sehr einfach begründen: Da die Planwirtschaft in diesem riesigen Land so regelmäßig versagte und selbst einfache Produkte oft auf regulärem Wege nicht erhältlich waren, musste sich jeder einzelne Sowjetbürger zu einem hoch kreativen Wirtschaftssubjekt entwickeln. Man könnte sagen, dass alle zu Unternehmern ihres eigenen Lebens werden mussten – täglich unterwegs auf der Suche nach günstigen Gelegenheiten.
So musste beispielsweise ein Metzger seinen privilegierten Zugang zu Fleisch dazu nutzen, sich andere Produkte zu beschaffen, jedenfalls wenn er über die Runden kommen wollte. Nicht anders erging es dem Apotheker, Schneider, Arbeiter im Automobilwerk oder Aeroflot-Funktionär. Jeder schaffte ein wenig (oder auch viel) beiseite, um Räderwerke zu schmieren oder sich einige kleine Extras zu sichern. Letztendlich erwies sich dieser heimliche graue Markt (nicht zu verwechseln mit dem Schwarzmarkt) als Stützkorsett für die Planwirtschaft – und rettete diese über Jahre und Jahrzehnte schweren Missmanagements hinweg.
Mit anderen Worten gelang es noch nicht einmal der extrem repressiven Sowjetmacht, der Kreativwirtschaft den Garaus zu machen, und darausspeist sich eine zentrale Erkenntnis über Kreativität. Natürlich sind Geschichten, in denen Kreativität dem Überleben dient, nicht ganz so unkompliziert wie solche, in denen unternehmerisch gesinnte junge Leute sie zum Spaß und aus einem Gewinnstreben heraus betreiben. Dennoch nehmen wir Kreativität nur dann ernst, wenn wir akzeptieren, dass sie in einem Kontext auftreten kann, in dem wir uns unwohl fühlen.
In der Existenzgründungsforschung unterscheiden wir zwischen dem Unternehmertum zur Existenzsicherung und jenem, das der Ausbeutung neuer Marktchancen dient. Existenzgründer letzteren Typs lieben es, das Unternehmertum anzupreisen, denn sie können lustige und motivierende oder sogar tröstende Geschichten erzählen. Hier haben wir Menschen, die anspruchsvolle Ideen entwickeln, Grenzen ausloten und reich dafür belohnt werden. Im Gegensatz dazu dient das existenzsichernde Unternehmertum dem nackten Überleben. Die hier Tätigen arbeiten einfach nur hart und gründen Unternehmen, weil sie es müssen. Langweiliger? Auf jeden Fall! Uncool? Jede Wette! Dennoch sind sie weitaus häufiger anzutreffen und entsprechen weit mehr der Norm, unabhängig davon, ob sie mit jenen Geschichten aufwarten können, welche die Menschen so gerne hören wollen.
Was will ich Ihnen damit sagen? Kreativität ist überall, sie ist ein dauerhafter Bestandteil unseres Lebens. Sie meldet sich in Kriegszeiten zu Wort, wenn die Menschen mit allen Mitteln ums Überleben kämpfen. Sie taucht in Gefängnissen und Kriegsgefangenenlagern auf. Sie ist ebenso unter den Junkies zu finden, die die städtischen Bürgersteige bevölkern, wie in Werbeagenturen mit ihren ironisch klingenden Retro-Namen. Und genau diese unablässige Energie interessiert und fasziniert mich, diese Kraft, die alle menschlichen Aktivitäten durchdringt – nicht die schöngefärbten Werbeanzeigen.
Endlose Möglichkeiten
Grundsätzlich betrachtet geht es bei Kreativität nicht um Wertschöpfung oder darum, irgendetwas auf neue Art und Weise zu tun. Es geht noch nicht einmal um Wissen und dessen Einsatz. Vielmehr hat Kreativität mit der Wahrnehmung von Potenzialen zu tun und mit der Bereitschaft, sich Möglichkeiten zu öffnen.
Nun sind einige dieser Möglichkeiten nicht gerade nett, einige unanständig und nicht für die Allgemeinheit bestimmt, und andere sind definitiv nicht jugendfrei. Viele eignen sich nicht als Grundlage motivationsfördernder Geschichten in Hochglanzmagazinen, und dennoch gibt es sie. Kreativität handelt von all den Möglichkeiten, Konzepte in die Realität umzusetzen (oder bisweilen auch, es nicht zu tun), und dies schließt alle Lösungen ein, auf die der Mensch verfällt, wenn das freie Handeln eingeschränkt ist. Dies bedeutet auch, dass es nicht darum geht, ob Kreativität nun gebraucht wird oder nicht, da wir ohnehin niemals die Wahl haben. Kreativität schert sich nicht darum, ob
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