Gefaehrliche Spur
Your Eyes.
„ Schmeichler“, antwortete sie verspätet auf sein Kompliment und erkannte an seinem Gesichtsausdruck, dass er Lunte gerochen hatte und von ihrer angeblich vollständig zurückerlangten Arbeitsfähigkeit nicht überzeugt war. Ein weiterer Nagel zu dem Sarg, in dem er ihren Job beerdigen würde. Sie machte eine ausholende Handbewegung. „Ich sehe, hier wurde renoviert.“
Er nickte. „War notwendig. Das alte Ambiente sah zu gemütlich aus für unsere Branche. Ein bisschen altbacken. Das neue zeigt Wirkung. Unsere Klientenzahl ist signifikant gestiegen.“ Er legte ihr die Hand auf die Schulter. „Dein Büro ist da hinten.“
Er zog seine Hand zurück, denn ihm war nicht entgangen, dass Rya z u sammengezuckt war. Sie seufzte leise. Dr. Milena Serkova hatte sie darauf vorbereitet, dass sie mit solchen Situationen konfrontiert werden würde, die ungewollt dazu geeignet waren, Menschen zu brüskieren, die sie vorher g e kannt hatten und nun einer völlig veränderten Ryanne MacKinlay gegenübe r standen. Sie hatte Rya auch gewarnt, dass einige diese Veränderung nicht verkraften und sich deshalb zurückziehen würden. Leider hatte sie mit dieser Prognose nur allzu recht behalten, denn ihre Freunde hatten sich in den ve r gangenen sechs Monaten einer nach dem anderen in Luft aufgelöst. Jason war der Letzte, der ihr noch geblieben war. Wie lange noch?
Er führte sie in den hintersten Winkel des Raums zu einem Büro in der Ecke, d as wie alles andere völlig neu eingerichtet worden war. Das einzig Vertraute war ihr altes Namensschild an der Tür. Alle anderen Türen hatten neue Schilder. Diese auch, aber das war leer. Ein weiteres Indiz, dass Rya auf Bewährung und schon halb entlassen war.
Jason hielt ihr höflich die Tür auf und ließ ihr den Vortritt. Rya musste sich zwingen einzutreten. Die weißen Wände schienen auf sie einzustürzen. W e nigstens bestanden sie nicht aus Kacheln, und die Decke war hoch genug, dass sie sich nicht wie in einem Sarg fühlte. Aber eingesperrt, eingezwängt, eingeengt, obwohl der Raum größer war , als … Zumindest gab es ein Fen ster, durch das die Morgensonne hereinschien. Nur das Tageslicht befähigte Rya, die Schwelle zu überschreiten, ohne schreiend davonzurennen.
Auf dem Tisch in ebenfalls steriler Grau-Weiß-Optik lag eine dunkelrote Aktenmappe, der man ansah, dass sie schon mehrfach gebraucht worden war. Vor dem Hintergrund des restlichen Ambientes wirkte sie wie ein Anachr o nismus. Rya setzte sich und legte ihre Umhängetasche auf dem Seitentisch ab. Jason nahm im Sessel vor dem Schreibtisch Platz.
„ Ein Vermisstenfall“, stellte sie fest, noch ehe sie die Mappe aufgeschlagen hatte.
Falls nicht auch das geändert worden war, bedeutete eine dunkelrote Ma p pe immer noch, dass es darum ging, eine Person zu suchen. Wobei vermisst nicht zwangsläufig hieß, dass dem Verschwinden ein Verbrechen zugrunde lag. Meistens handelte es sich um säumige Zahler, getürmte Ehemänner und am häufigsten um Erbschaftsangelegenheiten, bei denen Anwaltskanzleien einen entfernten Verwandten eines Verstorbenen suchten, um ihm sein u n erwartetes Erbe zukommen zu lassen.
Jason nickte. „Unsere Klientin heißt Sharon Kirk. Sie vermisst ihren Bruder Marty Kirk. Afghanistan-Veteran, der nach seiner Rückkehr die Kurve ins Zivilleben nicht gekriegt hat und sang- und klanglos verschwunden ist. Da er seine Sachen mitgenommen hat, wollte er wohl keinen Selbstmord begehen.“
„ Handy?“ Ryas Gehirn begann ermittlungsmäßig zu arbeiten.
„ Hat er vergessen mitzunehmen oder absichtlich zurückgelassen. Da er sich nie wieder gemeldet hat, liegt Letzteres nahe.“
„ Vorausgesetzt, er wurde nicht unmittelbar nach seinem Weggehen ermo r det.“ Sie warf einen Blick auf das Protokoll, das Jason nach den Angaben der Klientin angefertigt hatte. „Vor anderthalb Jahren verschwunden?“ Sie schü t telte den Kopf. „Warum will sie ihn erst jetzt suchen lassen?“
„ Weil sie angeblich seine Entscheidung zu gehen respektiert hat.“ Jason schnitt eine Grimasse, die ausdrückte, dass er die Behauptung für eine Ausr e de hielt. „Ein alter Kriegskamerad will ihn vor ein paar Monaten in Portland, Maine, gesehen haben, als Obdachlosen auf der Straße. Ms. Kirk will ihren Bruder aus dieser unsäglichen Situation rausholen. Leider ist der Kontakt zu dem Kamerad en abgebrochen. Soll heißen, er hat sich nie wieder gemeldet. Ms. Kirk ist daraufhin selbst nach Portland geflogen,
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