Gefährliche Trauer
Verfügung stellen, was Sie sonst noch brauchen«, stimmte Sir Basil erleichtert zu.
»Ich nehme nicht an, daß Sie im Lauf der Nacht etwas Ungewöhnliches gehört haben, Sir?« erkundigte sich Evan von der Türschwelle her.
Sir Basil runzelte die Stirn. »Wie? Ach so, nein, natürlich nicht, sonst hätte ich es erwähnt.« Bevor Evan sich noch umgedreht hatte, galt die Aufmerksamkeit des Mannes bereits wieder dem Laub, das der Wind gegen die Fenster peitschte.
In der Halle erwartete sie Phillips, der Butler. Schweigend führte er sie die breite, geschwungene Treppe bis zur Galerie hinauf. An der in Rot und Blautönen tapezierten, etwa fünfzehn Meter langen Wand, die an beiden Enden von einem Erkerfenster abgeschlossen wurde, standen mehrere Tische. Vor der dritten Tür links blieb Phillips stehen.
»Miss Octavias Zimmer«, sagte er leise. »Läuten Sie, wenn Sie etwas brauchen.«
Monk öffnete die Tür und trat ein; Evan hielt sich dicht hinter ihm. An der hohen, wunderschönen Stuckdecke hing ein Kronleuchter; die geblümten Vorhänge waren zur Seite gezogen, um das Tageslicht einzulassen. Das Mobiliar bestand aus drei bequemen Polsterstühlen, einer Frisierkommode mit dreiteiligem Spiegel sowie einem großen Himmelbett, dessen Überwurf das gleiche rosagrüne Blumenmuster aufwies wie die Vorhänge. Darauf ausgestreckt lag der leblose Körper einer jungen Frau. Sie trug ein Nachthemd aus elfenbeinfarbener Seide, das durch einen dunkelroten Fleck verunziert wurde, der von der Mitte der Brust bis fast zu den Knien reichte. Ihre Arme waren weit ausgebreitet, das dichte, dunkelbraune Haar ruhte lose auf den Schultern.
Überrascht nahm Monk einen schlanken, mittelgroßen Mann mit ernstem, nachdenklichem Gesicht zur Kenntnis, der neben ihr saß. Das durchs Fenster einfallende Sonnenlicht spielte in seinem lockigen, blonden Haar.
»Polizei?« fragte er, während er Monk von oben bis unten musterte, und stellte sich dann erst vor: »Dr. Faverell. Der diensthabende Konstabler verständigte mich, nachdem der Lakai ihn verständigt hatte - gegen acht Uhr etwa.«
»Monk«, erwiderte der, »und Sergeant Evan. Was haben Sie festgestellt?«
Evan zog die Tür hinter sich zu und trat näher ans Bett, das junge Gesicht zu einer bekümmerten Grimasse verzogen.
»Sie starb irgendwann im Lauf der Nacht«, sagte Faverell düster. »Dem Steifheitsgrad der Leiche nach zu urteilen, würde ich sagen, vor mindestens sieben Stunden.« Er zog eine Uhr aus der Tasche und warf einen Blick darauf. »Jetzt haben wir zehn nach neun, sagen wir also, frühestens gegen drei Uhr morgens. Eine einzige, ziemlich zerklüftete und sehr tiefe Wunde. Die Ärmste muß auf der Stelle bewußtlos und binnen weniger Minuten tot gewesen sein.«
»Sind Sie der Hausarzt der Moidores?«
»Nein. Ich wohne gleich um die Ecke in der Harley Street. Der hiesige Konstabler kannte meine Adresse.«
Faverell trat beiseite, um Monk ans Bett zu lassen. Der Inspektor beugte sich vor und betrachtete die Tote. Auf ihrem Gesicht lag ein leicht überraschter Ausdruck, als ob der Tod etwas unerwartet zugeschlagen hätte, doch selbst der wächsernen Blässe war es nicht ganz gelungen, den ehemaligen Liebreiz zu vertreiben. Stirn und Wangenknochen waren hoch, die Augenhöhlen unter den zart geschwungenen Brauen wohlgeformt, die Lippen voll. Ein Gesicht, das tiefe Gefühle verriet und doch weich und weiblich wirkte - das Gesicht einer Frau, die ihm vermutlich gefallen hätte. Etwas am Schwung ihrer Lippen erinnerte ihn flüchtig an jemand anders, aber an wen, fiel ihm nicht ein.
Sein Blick wanderte tiefer, zu den blutigen Kratzern auf Hals und Schultern, die unter dem zerrissenen Nachthemd zu sehen waren. Ein zweiter langer Riß führte vom Saum zur Leistengegend, doch hier war der Stoff übereinandergeschlagen worden, wie um der Schicklichkeit Genüge zu tun. Monk hob vorsichtig die Hände hoch und begutachtete sie, aber die Nägel waren unversehrt, keinerlei Blut oder Hautfetzen befanden sich darunter. Falls sie sich gewehrt hatte, war der Angreifer jedenfalls nicht verletzt worden.
Er suchte nach Blutergüssen. Es mußte irgendwelche Hautverfärbungen geben, selbst wenn sie nur wenige Momente nach der Verletzung gestorben war. Er betrachtete die Arme, den nächstliegenden Fundort für die Spuren eines Kampfes, dann die Beine und den Rumpf - nichts.
»Man hat die Leiche bewegt«, stellte er kurz darauf fest, nachdem er den Verlauf der Blutflecke in Richtung des Saumes
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